»Ich war nicht in jedem Augenblick glücklich über die österreichische Position«

Interview mit »DIE FURCHE« zum 75. Geburtstag der Wochenzeitschrift.

Das Gespräch führten Heinz Nußbaumer und Doris Helmberger 

In Zeiten wie diesen ist nichts in Stein gemeißelt. Schon gar nicht ein Interview mit dem Bundespräsidenten. Statt des lange vereinbarten persönlichen Gesprächs in der Hofburg wird es schlussendlich eine Telefonkonferenz zwischen der Wiener Hainburgerstraße (wo FURCHE-Herausgeber Heinz Nußbaumer und Chefredakteurin Doris Helmberger vor Handys und Laptops sitzen) und dem Ballhausplatz (wo Alexander Van der Bellen zum Schnurtelefon greift). Die Zeit ist eng bemessen, hier wie dort sind Fotografen am Werk. Doch der Bundespräsident bleibt hörbar gelassen und aufgeräumt. Für Heinz Nußbaumer ist das Jubiläums-Gespräch eine akustische Heimkehr: Viele Jahre hat der ehemalige Außenpolitik-Chef des Kurier als politischer Berater und Sprecher von Kurt Waldheim und Thomas Klestil in der Hofburg gewirkt.

 

Die Furche: Herr Bundespräsident, vorab ein großes Danke, dass dieses Gespräch trotz aller Umstände zustande kommt...

Alexander Van der Bellen: Gerne. Und als allererstes gratuliere ich der FURCHE natürlich zum 75. Geburtstag!

Die Furche: Das freut uns sehr! Wir feiern unser Jubiläum in einer schwierigen Zeit: Krisen allerorten. Wie würden Sie die diese Phase im Rückblick auf die letzten 75 Jahre einordnen? Ist sie die traumatischste, die wir seit Kriegsende erlebt haben? 

Van der Bellen: So weit würde ich nicht gehen. Neu ist, dass insbesondere diese Pandemie, zumindest für die meisten Menschen, völlig unerwartet gekommen ist. Doch wenn man auf die letzten 75 Jahre zurückblickt, dann gab es auch die Kubakrise mit der Gefahr eines Atomkriegs, die Berlinkrise in den 1950er Jahren sowie mehrere kritische Situationen im so genannten Kalten Krieg. Dazwischen hatten wir auch ruhige Jahre – und jetzt erleben wir eine Häufung einander verstärkender Krisen.

Die Furche: Dass die Situation ernst ist, zeigt sich aber nicht zuletzt an der Frequenz Ihrer Ansprachen. Sie haben sich zuletzt mehrfach sehr empathisch und ermutigend an die Bevölkerung gewandt. „Wir gehen gemeinsam in diesen Lockdown, und wir kommen gemeinsam auch wieder heraus“, haben Sie gesagt. Wo sehen Sie derzeit die größte Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Van der Bellen: Der Punkt ist, dass wir zwar alle betroffen sind, aber sehr unterschiedlich. Die Kinder vermissen ihren Schulalltag und ihre Freunde, die Jugendlichen vermissen ihre Partys, Eltern kämpfen in ihrem Alltag mit Homeschooling und Homeoffice gleichzeitg, ältere Menschen sind oft einsam, weil sie nicht besucht werden können und Unternehmer(innen) fürchten um ihre Existenzen. Angesichts dieser unterschiedlichen Betroffenheiten neigen wir dazu, nur unsere eigenen Probleme zu sehen. Dazu kommt, dass viele, und eben auch ich, zwar an den Zusammenhalt appellieren, aber das gemeinsame Vorgehen gegen das Virus in paradoxer Weise auch bedeutet, körperliche Distanz zu wahren. Das ist völlig neu.

Die Furche: Beim Nachlesen von FURCHE-Interviews mit Ihnen haben Sie sich mehrfach gegen die Etikettierung Österreichs als „Insel der Seligen“ ausgesprochen. Spätestens seit dem Terroranschlag vom 2. November hat sich dieses Gefühl verflüchtigt. Es gibt verstärkt Sorge um das Miteinander – insbesondere mit den Muslimen. Was ist aus Ihrer Sicht jetzt notwendig?

Van der Bellen: Notwendig ist auf jeden Fall, keine vereinfachte Erklärung aufzubauen – nach dem Motto: Die Muslime sind an allem schuld. Der Terrorist vom 2. November war zwar Muslim und seine Familie kam ursprünglich aus Nordmazedonien, aber er hat einfach um sich geschossen. Es war ihm egal, wen er trifft, Hauptsache viele. Und unter anderem hat er, wenn man so will, auch einen Landsmann ermordet, auch der hatte Wurzeln in Nordmazedonien und war Muslim. Ich finde, wir haben hier in Österreich eine schöne Tradition im Umgang mit anderen Religionen: Die österreichische Anerkennung des Islam im Jahr 1912 war eine Reaktion auf die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch das Habsburgerreich. Diese Maßnahme hat sich bis heute sehr gut bewährt. Was bleibt, sind Integrationsfragen, doch das betrifft alle Zuwanderer. Das hat mit Religion relativ wenig zu tun.

Die Furche: Sie haben also keine besonderen Wünsche oder Erwartungen speziell an die Muslime in Österreich?

Van der Bellen: Klar ist, dass sich die Vertretung der Muslime, die IGGIÖ, schon mehrfach geäußert hat – aber dass das manchen Leuten immer noch zu wenig ist. Ich erinnere mich auch an die Ausstellung von Bildern von Holocaust-Überlebenden am Wiener Burgring im vorigen Jahr, die eines Nachts beschädigt worden ist. Daraufhin hat es eine Mahnwache gegeben: Es war saukalt und hat geregnet. Und wer hat sich spontan gemeldet?  Auch die muslimische Jugend in Wien. Das war eine sehr schöne Geste, die allem widerspricht, was man an Vorurteilen gegen Muslime haben kann.

Die Furche: Österreich war international geschätzt als Brückenbauer zwischen den Kulturen und Religionen. Doch zuletzt wurde viel zurückgebaut – man denke etwa an die Schließung des König-Abdullah-Zentrums für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) oder das Aus für die Österreichische Orient-Gesellschaft Hammer-Purgstall. Verlieren wir unsere verbindende Position? 

Van der Bellen: Zum KAICIID - hier sehe ich ein Verschulden auf mehreren Seiten. Einerseits wurde, wann immer in Saudi-Arabien etwas mit unseren Menschenrechtsvorstellungen wirklich Unvereinbares geschehen ist - Gerichtsurteile, Auspeitschungen, Hinrichtungen – das KAICIID mitverantwortlich gemacht. Umgekehrt leben solche Organisationen davon, was sie selber kommunizieren. Und die öffentliche Kommunikation des KAICIID war für moderne Erfordernisse zu bescheiden; obwohl man gute Arbeit geleistet hat im interreligiösen Dialog. Dass das alles passiert ist, ist bedauerlich. Andererseits ist Österreich einer der Sitzstaaten der UNO, die OPEC und andere sind hier vertreten, auch das Iran-Abkommen, u.a. mit den USA, wurde in Wien verhandelt. Das ist ein Kapital, auf dem wir aufbauen können.

Die Furche: Sie haben die USA angesprochen. Dort befindet man sich in einem Zustand extremer Polarisierung. Auch in Österreich merkt man diese Spaltung – besonders deutlich wurde sie im Zuge des Bundespräsidentschaftswahlkampfs. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Van der Bellen: Präsident Donald Trump hat dieses Phänomen zwar weiter zugespitzt, aber die Entwicklung ist viel älter. Dass vor allem die Republikaner die anderen als Feinde sehen und nicht einfach als Konkurrenten, geht zumindest zehn, 15 Jahre zurück. In Österreich ist das bei weitem nicht so. Wenn ich mir Wahlplakate aus den 1950er oder 1960er Jahren anschaue, dann geht es heute geradezu friedlich zu. Wir haben in den Bundesländern und im Bund völlig unterschiedliche Regierungs-Koalitionen – und die Gesprächsbasis ist nach wie vor da. Was wir aber in allen Staaten  haben, ist eine zunehmende Affinität zur Komplexitätsreduktion. Vielleicht hat das mit dem Siegeszug der Social Media zu tun. Aber so viel man auch gegen diese Blasenbildung sagen kann, bei der jeder nur noch das zur Kenntnis nimmt, was er eh selber glaubt: Ich selbst hätte die Wahlen 2016 ohne Social Media nicht gewonnen (lacht).

Die Furche: Das ist ein Argument...

Van der Bellen: In bestimmten Diktaturen sind die sozialen Medien außerdem genau das Instrument, um die Macht des Diktators oder der oligarchischen Gruppe aufzubrechen. Die Welt ist nun einmal komplex, und sie wird auch so bleiben.

Die Furche: Aber nochmals zu den USA: Haben Sie das Gefühl, dass der atlantische Graben breiter geworden ist?

Van der Bellen: Ja, und das hat natürlich mit den politischen Sichtweisen von Donald Trump zu tun: America First und so weiter. Aber das ist nicht das einzige. Man muss sehen, das sich das außenpolitische Interesse der USA verlagert - von Westeuropa nach Ostasien. Einer der Gründe ist die wirtschaftliche Entwicklung Chinas. Und damit geht die entsprechende militärische Position einher. Das kann der bisherigen Nummer 1 nicht ganz egal sein. Insofern steht die transatlantische Zusammenarbeit auf schwächeren Beinen als zur Zeit des Kalten Krieges. Die Frage ist: Wie reagieren wir Europäer darauf?

Die Furche: Hugo Portisch hat zuletzt in seinem Buch „Russland und wir“ dafür plädiert, dass wir Russland – bei all seinen menschenrechtlichen Einschränkungen – verstärkt als Nachbar erkennen sollten. 

Van der Bellen: Absolut. Man soll nicht naiv sein, aber vielleicht kann man sagen, dass das Verhältnis Österreich-Russland immer schon eines war, das von manchen NATO-Mitgliedern nicht immer verstanden wurde. Spätestens seit dem Staatsvertrag von 1955 haben es österreichische und russische Politiker verstanden, ein Verhältnis aufrecht zu erhalten, das beiden Seiten nützlich ist. Jetzt verstehe ich natürlich die Sorgen Polens oder baltischer Länder, die eine unmittelbare Grenze zum jetzigen Russland haben. Und die Entwicklung in der Ukraine hat nicht dazu beigetragen, das Verhältnis einfacher zu machen. Nichts desto weniger ist Russland ein weitgehend europäisches Land. Was wäre die europäische Literatur ohne die russische des 19. Jahrhunderts? Daran muss man sich schon auch erinnern. Ich wäre als Erster dabei, wenn eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Russland und der gesamten EU befördert würde. Doch da gehören immer zwei Seiten dazu.

Die Furche: Bruno Kreisky hat immer eine Kurzformel formuliert: So viel Nähe wie möglich mit Amerika, so wenig Distanz wie möglich zu Russland.

Van der Bellen (lacht): Ja, aber wir brauchen auch unser eigenes Selbstbewusstsein in der EU dafür. Wir sind der weltweit größte Wirtschaftsraum, aber wir haben keine gemeinsame Außenpolitik und keine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Insofern darf man sich nicht wundern, wenn aus russischer Sicht die EU nicht immer ernst genommen wird.

Die Furche: Apropos EU: Gerade bei den aktuellen Debatten über Corona-Hilfszahlungen und deren Koppelung an Rechtsstaatlichkeit werden Europas Bruchlinien deutlich – diesfalls zwischen Polen und Ungarn und allen anderen. Wie gefährdet ist die gemeinsame europäische Idee?

Van der Bellen: Zunächst: die europäische Einigung ist die beste Idee, die wir jemals hatten. Und sie ist nicht selbstverständlich, darauf hat uns dieser unglückselige Brexit 2016 deutlich hingewiesen. Die Union hat mit ihrem 750 Milliarden Euro umfassenden Aufbaufonds „Next Generation EU“ das größte Investitionspaket ihrer Geschichte auf die Beine gestellt. Was nun Polen und Ungarn betrifft, so würde ich die Nerven bewahren: Die beiden gehören zu den größten Empfängerländern der Union. Dass sie auf diese Gelder verzichten wollen, kann ich mir schwer vorstellen.

Die Furche: Auf die Nerven gegangen ist vielen auch Österreich mit seiner selbstbewussten „frugalen“ Position bei der Verhandlung des Corona-Hilfsfonds. War die Kritik gerechtfertigt?

Van der Bellen: Ich war nicht in jedem Augenblick glücklich über die österreichische Position. Man muss aber sehen, wie die Entscheidung im Europäischen Rat abläuft. Dort erwartet man bei jeder größeren Sache Leadership von Deutschland und Frankreich – insbesondere nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs. Gleichzeitig sind alle kleineren Länder nervös, dass über sie drübergefahren wird. Insofern ist es verständlich, dass es auf regionaler Ebene – teilweise auf  anderer wie bei den „frugal four“, (Schweden, Dänemark, Niederlande und Österreich, Anm.) – Bestrebungen gibt, sich abzusprechen. Und dann spielt plötzlich ein kleiner Block von drei, vier, fünf Ländern eine Rolle, weil man den zwei großen nicht bedingungslos das Leadership überlassen will.

Die Furche: Damit kommen wir zu einer zentralen Frage, wenn es um Koordinaten geht: Was macht Österreich eigentlich aus? Worin besteht seine Corporate Identity? Wo ist es in Europa zu verorten?

Van der Bellen: Also die Frage nach einer nationalen Identität ist tricky. Einmal hat mich eine Botschafterin aus einem EU-Staaten gefragt: „Please explain Austria to me!“ Und ich habe völlig unvorbereitet geantwortet: „The first thing you have to understand is: Austria is not Germany!“ (lacht) Man kann schon über Identität spekulieren – im Verhältnis zu anderen, zu den Deutschen oder Italienern. Was uns vielleicht auszeichnet – auch durch den Lauf der Geschichte und den Zwang, mit Sowjetrussen und Amerikanern 1955 zu irgendeiner Lösung zu kommen – ist diese Bereitschaft zum Kompromiss. Das ist nämlich auch etwas typisch österreichisches. Und ich hoffe auch, dass das nicht verloren geht. Denn auf den anderen einzugehen, ist eine Stärke und keine Schwäche.

Die Furche: Apropos Illusion: Ihre Lebensthemen als Politiker sind Klimapolitik und Menschenrechte. Beides ist angesichts der aktuellen Ereignisse in den Hintergrund gerückt. Haben Sie sich vorgenommen, sich in diesen Fragen wieder öffentlich zu melden?

Van der Bellen: Das sind wirklich zwei große Fragen, die mich seit Jahrzehnten begleiten. Die Klimakrise wird man durch eine Impfung, wie eben bei der Covid-Krise, nicht beseitigen können, sondern die Folgen hängen von unser aller Entscheidungen ab. Wobei ich hier vorsichtig optimistisch bin, weil ich sehe, dass die Wirtschaft vielfach schon weiter ist als die Politik. Das ist überraschend, weil die Klimakrise ja im Wesentlichen ein Phänomen des Marktversagens war und ist. Ich hoffe, dass die Politik entsprechend nachzieht.

Und was die allgemeinen Menschenrechte betrifft, so finde ich nach wie vor, dass der Artikel 1 der Erklärung von 1948 das schönste politische „Gedicht“ ist, das jemals geschrieben wurde: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren…“. Das ist keine Formulierung, die einen Ist-Zustand beschreibt, sondern eine Zukunftshoffnung. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auch auf diesem Gebiet weltweit wesentliche Fortschritte machen werden.

Die Furche: Wenn Sie schon von Zukunftshoffnung sprechen: Wo sehen Sie hier den Platz eines Mediums wie der FURCHE?

Van der Bellen: Die Situation ist nicht leicht, weil alle Printmedien in Schwierigkeiten stecken. Vor allem wegen des Einbruchs der Werbeeinnahmen aufgrund der digitalen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Andererseits: Haben Sie nicht mit der FURCHE eine Unique Selling Proposition in Österreich? Wer kann Ihnen ernsthaft Konkurrenz machen? Das stimmt mich ja wieder optimistisch.