Der Bundespräsident im Interview mit den Bundesländerzeitungen

»Angst ist ein schlechter Ratgeber.«

Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Interview mit den Bundesländerzeitungen über »Ibiza« und Corona-Krise

Haben Sie Mitleid mit Ulrike Lunacek?

Van der Bellen: Ich habe Mitgefühl. Ulrike Lunacek hat es eh erklärt. Sie hat es sich anders vorgestellt und ihre Ziele nicht erreicht und deswegen ihren Rücktritt erklärt.
 

Hat Sie der Rücktritt überrascht?

Van der Bellen: Mich überrascht in der Politik nach Ibiza wenig.

 

Haben Sie das Gefühl, dass die österreichische Politik aus Ibiza gelernt hat?

Van der Bellen: Es war ein Schock, dass ein amtierender Vizekanzler und ein Klubobmann im Gespräch mit einer unbekannten Person schildern, dass es möglich, durchführbar und wünschenswert wäre, Gesetze zur Parteienfinanzierung zu umgehen, die Medienfreiheit zu unterlaufen und öffentliche Aufträge zu manipulieren. Das wäre blanke Korruption. Nicht nur die Politik hat daraus gelernt, dass es so nicht geht. Wir haben alle daraus gelernt. Wir haben auch gelernt, dass es mit der Verfassung ein solides Fundament für solche Krisen gibt.

 

Ist die Politik sauberer geworden durch die Vorgänge seit Ibiza?

Van der Bellen: Ich denke, dass die Sensibilität dazu gestiegen ist, was geht und was sicher nicht geht.

 

Auch was Parteipolitik betrifft? Stichwort Postenschacher.

Van der Bellen: Postenschacher ist immer schlecht. Andererseits: In Österreich kennt bald einmal jeder jeden. Jemandem daher gleich zu unterstellen, er sei befangen, ist heikel.

 

Sie haben die türkis-blaue Bundesregierung angelobt. Hätten Sie bei bestimmten Mitgliedern strenger sein sollen?

Van der Bellen: Eine Bundesregierung muss das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments genießen. Sie muss auch ein Mindestmaß des Vertrauens des Bundespräsidenten haben, zumindest zum Zeitpunkt der Angelobung. Ich gebe aber zu, dass dieses Anfangsvertrauen vor allem zu Innenminister Herbert Kickl im Lauf der Zeit gesunken ist.

 

Im Ibiza-Video war aber Heinz-Christian Strache zu sehen.

Van der Bellen: Strache war als Vizekanzler und Minister relativ unauffällig. Mir ist nicht in Erinnerung, dass er auf Grund seines Ressorts, in der Öffentlichkeit sehr präsent war.

 

Wenn Ihr Vertrauen in einen Minister schwindet, haben Sie keine Möglichkeit ihn abzulösen, außer der Bundeskanzler schlägt Ihnen das vor. Würden Sie sich mehr Rechte und Kompetenzen für den Bundespräsidenten wünschen?

Van der Bellen: Nein, in der Beziehung nicht. Ich würde mir aber eine Diskussion zu einer anderen Frage wünschen. Der Bundespräsident bestätigt mit seiner Unterschrift ob ein Gesetz ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Es wäre interessant, hier den Verfassungsgerichtshof mehr einzubinden.
 

Wie könnte der VfGH eingebunden werden?

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat im Unterschied zum österreichischen Verfassungsgerichtshof die Möglichkeit, einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Es wäre sinnvoll, so etwas sowohl für Gesetze als auch für Verordnungen vorzusehen.

 

Das heißt, wollen Sie den VfGH auch befassen können?

Van der Bellen: Ja, wenn ich ernsthafte Zweifel am verfassungsmäßigen Zustandekommen eines Gesetzes habe. Was die Vorprüfung von Staatsverträgen anlangt, so findet sich ein entsprechender Passus bereits im Regierungsprogramm.

 

Sie teilen die Argumentation von Bundeskanzler Sebastian Kurz also nicht, der meinte, dass der Verfassungsgerichtshof strittige Verordnungen eh irgendwann anschauen und aufheben könne.

Van der Bellen: Die Wortwahl war zu salopp. Aber in der Sache stimmt es. Der Verfassungsgerichtshof kann prüfen. Die Frage ist nur: Wann?

 

Sind Sie sicher, dass wir Österreicher alle Grundrechte zurückbekommen, die während der Coronakrise eingeschränkt wurden? Oder wird die Regierung finden, dass regieren mit eingeschränkten Grundrechten für sie gemütlicher ist?

Van der Bellen: Ich glaube, die Regierung will es sich nicht gemütlich machen. Wir werden laufend abzuwägen haben, wie viel wir von einem Grundrecht hergeben, um ein anderes zu schützen Wir haben laufend die Frage zu stellen, wie viel Freiheit wir bereit sind aufzugeben, um unsere Gesundheit zu schützen.

Wie beurteilen sie die Einschränkung der Versammlungsfreiheit?

Van der Bellen: Das ist ein sehr heikler Bereich. Die Demonstrationsfreiheit ist ein Grundrecht, doch andererseits erhöhen eng gedrängte Menschenmassen das Infektionsrisiko. Doch ich hoffe sehr, dass wir eines Tages zum Normalzustand zurückkehren werden. Ich habe nicht die Sorge, dass wir in ein autoritäres System abgleiten.

 

Man kann aber schon die Frage stellen, ob manche Maßnahmen nicht überschießend waren. Wenn etwa an manchen Grenzen Soldaten mit Sturmgewehren stehen. Oder auch der Umstand, dass die Miliz einberufen wurde.

Van der Bellen: Die Miliz übernimmt weitestgehend Aufgaben, die vorher entweder die Polizei oder das Bundesheer erledigt haben. Etwa die Bewachung der Botschaften. Aber es handelt sich hier um eine wichtige Frage: Inwieweit werden Maßnahmen erklärt – und inwieweit wird versucht, Angst verbreitet? Das hielte ich für kontraproduktiv. Denn Angst ist ein schlechter Ratgeber. Ich bin überzeugt: Wir brauchen offene Grenzen. Und zwar aus wirtschaftlichen Gründen und aus psychohygienischen Gründen. Es wäre ganz schlecht, sich daran zu gewöhnen, eingeigelt zu sein, isoliert zu sein. Und das meine ich nicht nur im innerösterreichischen Rahmen, sondern im europäischen Rahmen. Es läuft in Wolfsburg kein Auto vom Band, wenn nicht die österreichischen Zulieferbetriebe arbeiten. Und umgekehrt müssen die österreichischen Zulieferer wissen, wann die Produktion wieder hochgefahren wird. Das gilt für zahllose Bereiche, vom Tourismus gar nicht zu reden. Ich erwarte mir für die kommenden Wochen mehr Verständnis dafür, dass wir hier ein Problem haben, das alle Mitgliedstaaten der Union betrifft. Es genügt nicht zu sagen: Wir Österreicher machen Urlaub in Österreich und jeder Deutsche ist willkommen, sondern wir haben auch die Aufgabe zu schauen, was mit Kroatien oder Griechenland geschieht. Wo, nebenbei bemerkt, in diesen beiden Ländern die Coronafälle verschwindend niedrig sind. Wir müssen Regeln im europäischen Geist finden, und wir müssen zu gemeinsamen Lösungen kommen. Italien beispielsweise ist einer unserer wichtigsten Handelspartner. Wir können nicht so tun, als ginge uns die Situation dort nichts an.

 

Der Aufruf des Bundeskanzlers, dass man heuer nur in Österreich Urlaub machen solle, würde Ihnen also nicht über die Lippen kommen?

Van der Bellen: Soweit meine Urlaubsplanung schon möglich ist, bleiben wir in Österreich. Ich kann aber nicht von mir auf andere schließen. Ich entnehme den Medien, dass etwa an der italienischen Adria schon experimentiert wird, wie sie das mit dem Abstand hinkriegen. Damit zumindest ein Minimum an Tourismus möglich ist.

 

Die Diskussion über die Grenzöffnungen ist Ihnen also zu sehr von nationalem Geist getragen?

Van der Bellen: Ja, sicher. Aber nicht nur in Österreich, sondern generell. Alle Staaten haben den Fehler gemacht, zunächst nur auf sich selbst zu blicken.

 

Sie haben als Bundespräsident zwei Krisen erlebt, Ibiza und Corona. Sahen Sie bei diesen Krisen irgendwo im Staat Schwachstellen, die völlig neu geregelt werden müssten?

Van der Bellen: Wie wollen Sie für jede denkbare Krise vorsorgen? Überdies lauert die nächste Krise um die Ecke. Und gegen die gibt es keinen Impfstoff. Ich meine natürlich die Klimakrise.

 

Der Gesundheitsminister hat gesagt, dass er sich zur Lösung der Klimakrise einen ähnlichen Teamgeist wünschen würde wie bei der Abwehr der Coronakrise. Sehen Sie das auch so?

Van der Bellen: Ich sehe das leidgeprüft – und realistisch. Offenbar sind wir Menschen so geprägt, dass wir auf unmittelbar bevorstehende Krisen rasch reagieren. Aber wenn etwas in der Zukunft liegt, denken wir, dass wir noch Zeit haben. Es gibt psychologische Hürden, die uns daran hindern, ein Problem, das in seiner wirklichen Ernsthaftigkeit zehn, 20 oder 50 Jahre vor uns liegt, ernsthaft lösen zu wollen. Die Klimakrise ist das größte Marktversagen aller Zeiten. Ohne wirtschaftspolitische Maßnahmen werden wir diese Krise nicht überstehen.

 

Es ist oft unklar, wie die Entscheidungen in den Coronakrisenstäben getroffen werden. Würden Sie sich mehr Transparenz wünschen?

Van der Bellen: Experten sind wichtig, aber Experten können unterschiedlicher Meinung sein. Als Politiker müssen Sie aber die Entscheidung treffen, auf welche Empfehlung Sie sich stützen.

Die Kritik lautet auch, dass die Regierung Maßnahmen verkündet, aber nicht begründet auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen diese fußen.

Van der Bellen: Das ist eine andere Fragestellung. Das eine ist, ob ein Expertenbeirat quasi im Lichte der Öffentlichkeit diskutiert – da hätte ich meine Zweifel. Die andere Frage ist, wie ein Regierungsmitglied eine bestimmte Maßnahme begründet.

 

Hätte es da mehr Transparenz geben sollen?

Van der Bellen: Es braucht Transparenz und Vertraulichkeit. Manchmal ist Vertraulichkeit etwas Gutes – auch für die Betroffenen. Aber Entscheidungsgründe müssen transpartent nachvollziehbar sein.

 

Zum Kleinwalsertal: Bundeskanzler Sebastian Kurz hat nach dem Aufruhr der vergangenen Tage angekündigt, Bürgerkontakte neu zu organisieren. Wie werden Sie es künftig handhaben?

Van der Bellen: Wir haben gerade darüber gesprochen, dass es langsam Zeit wäre, wieder hinauszufahren; österreichweit meine ich. Da muss man sich gut überlegen, wie das organisiert wird. Einen konkreten Ratschlag habe ich aber nicht. Was passiert aber, wenn sich die Situation nicht deutlich beruhigt? Ich denke da an Wahlen und Versammlungen. Es braucht ein Forum, um mit Leuten zu reden.

 

Hat die Erfahrung aus dem Kleinwalsertal Einfluss auf Ihre Bürgerkontakte?

Van der Bellen: Ja sicher. Wenn wir Veranstaltungen machen, müssen wir darauf achten, Abstand zu halten und so weiter.

 

Verwenden Sie die „Stopp Corona“-App?

Van der Bellen: Noch nicht.

 

Sind Sie froh, dass Ibiza passiert ist, weil sonst Herbert Kickl und Beate Hartinger-Klein die Krise managen würden?

Van der Bellen: Es war eine Fügung, dass wir jetzt eben eine andere Situation haben.

 

Sie haben damals nach dem Ibiza-Skandal gesagt: „So sind wir nicht.“ Haben wir das ein Jahr später bewiesen? Konnte Österreich sein Image reparieren?

Van der Bellen: Das glaub ich schon. Das war auch in den Reaktionen damals, ab dem 3. Juni eindeutig zu sehen, nachdem ich die Regierung von Brigitte Bierlein angelobt habe.