Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen beim Verfassungstag 2021 des Verfassungsgerichtshofes.

Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen beim Verfassungstag 2021

»In einer Demokratie gilt es aber immer abzuwägen, wie viel wir von einem Grundrecht hergeben, um ein anderes zu achten.«

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin a.D.!

Sehr geehrter Herr Präsident des Verfassungsgerichtshofes!

Meine Damen und Herren!

 

Das Bundes-Verfassungsgesetz feierte letztes Jahr seinen 100. Geburtstag. Wir alle sind davon ausgegangen, dass wir dieses Jubiläum mit großen Feierlichkeiten, sozusagen mit Pauken und Trompeten, begehen werden. Unsere Bundesverfassung hätte sich dies wahrlich verdient.

Doch, wie wir alle wissen, hat die Covid-19-Pandemie das verhindert. Wir mussten lernen, von solchen Feierlichkeiten Abstand zu nehmen und nicht zusammenzukommen. Umso mehr schätze ich es,  dass wir heute hier sein können und freue mich auch, dass es die Lage heuer erlaubt, dass Präsident Voßkuhle nach Wien reisen konnte. Ich freue mich schon auf Ihren und Frau Grubers Festvortrag.

Vieles, was vergangenes Jahr zu sagen gewesen wäre, ist auch heute noch relevant. Ich möchte im Folgenden auf drei Punkte eingehen, nämlich Pandemie, Asylentscheidungen und Klimakrise.

In einer Menge von Entscheidungen hatte sich der Verfassungsgerichtshof in den vergangenen eineinhalb Jahren mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu befassen. Besonders herausfordernd war dabei sicherlich, dass Entscheidungen möglichst zeitnah zu treffen waren, um dem Gesetzgeber und der Vollziehung die erforderliche Klarheit und Sicherheit für anstehende nächste Schritte zu geben. Vor Augen geführt wurde uns auch, wie komplex das Zusammenwirken unterschiedlicher Staatsfunktionen in einem Bundesstaat sein kann. Im Unterschied zu Deutschland, Herr Präsident Voßkuhle, ist das Gesundheitswesen in Österreich zwar dem Bund zugeordnet, die Länder haben aber in der Pandemiebekämpfung auch eigene Kompetenzen wahrzunehmen.

Die Landeshauptleute haben also ein gewichtiges Wort mitzureden. Manchmal war es für die Bürgerinnen und Bürger schwierig, sich noch auszukennen. Bund und Länder waren gleichermaßen aktiv und man musste sich mitunter fragen, wo gehört eine Rechtsmaterie hin, in wessen Kompetenz fällt eine Maßnahme; wer darf also was wann und wie bestimmen.

Die vielleicht heiklere Diskussion ist aber, ob und wie weit der Staat in Grundrechte eingreifen darf.

Auch wenn es manche nicht wahrhaben möchten, diese Diskussion hat es schon immer gegeben. Einige öffentliche Diskussionsbeiträge lassen jedoch den Eindruck entstehen, dass es nur das Grundrecht Freiheit gibt; und nicht auch deren Einschränkung.

In einer Demokratie gilt es aber immer abzuwägen, wie viel wir von einem Grundrecht hergeben, um ein anderes zu achten.

Wir haben uns laufend die Frage zu stellen, wie viel Freiheit wir etwa bereit sind aufzugeben, um unsere Gesundheit zu schützen. In Pandemiezeiten ganz besonders und natürlich nur zeitlich begrenzt. Und umgekehrt: Wie viele Gesundheitsrisiken gehen wir ein,um Freiheiten aufrecht zu erhalten.

Und im Übrigen: Freiheit kann auch die Entscheidung sein, zugunsten anderer ein Recht nicht in Anspruch oder zum Schutz anderer sogar eine Belastung in Kauf zu nehmen.Warum diese Debatte so heftig geführt wird,darüber müssen wir nachdenken,da in ihr viel gesellschaftliches Spaltpotenzial liegt. Zugleich wissen wir aber, dass wir nur gemeinsam, nur unter Mithilfe aller  - also wenn möglichst alle geimpft sind - diese Pandemie in den Griff bekommen können. Dem Verfassungsgerichtshof ist in der Bundesverfassung zur Wahrung der Grundrechte eine eminent wichtige Funktion zugewiesen. Seine Aufgabe ist es, auf die Einhaltung der Verfassung zu achten.

Implizit setzt er damit den Staatsgewalten verfassungsrechtliche Schranken und der Politik Grenzen. Dabei darf der VfGH  über die verfassungsrechtlichen Grundsätze hinaus die Situation im Ganzen nicht unberücksichtigt lassen. Deutlich wird das etwa im Asyl- und Fremdenrecht; besonders in der Frage der Zulässigkeit von Abschiebungen.

In einer Reihe von Entscheidungen hat der Verfassungsgerichtshof jüngst Rückkehrentscheidungen nach Afghanistan beurteiltund angesichts der dortigen Lage für verfassungswidrig erklärt. Und er hat erneut deutlich gemacht, dass sich Asylentscheidungen nicht in einer Aneinanderreihung von floskelhaften Textpassagen und zusammengesetzten Textbausteinen, ohne nachvollziehbaren Begründungswert für den konkreten Einzelfall, erschöpfen dürfen. Vielmehr muss auf die individuelle Fluchtgeschichte und die Gegebenheiten im Herkunftslandin jedem Einzelfall eingegangen werden.

Damit ein derart sorgfältiges Vorgehen möglich ist, braucht es allerdings auch die notwendigen Ressourcen.

Klar ist jedenfalls: Das verfassungsrechtlich verankerte Folterverbot gilt absolut – und für jede und jeden. Eine Abschiebung ist daher so lange verfassungswidrig, als die Rückführung im Hinblick auf die Lage im Zielland nicht vertretbar ist.

Das hat der VfGH unmissverständlich deutlich gemacht!

Unser Bundes-Verfassungsgesetz stammt aus 1920. Es hat sich über seine Geltungszeit zweifellos bewährt, auch in Zeiten der Pandemie. Dennoch kommt man nicht daran vorbei, dass es jetzt – im Jahr 2021 – notwendig ist zu überlegen, ob wir für bevorstehende Aufgaben ausreichend gerüstet sind.

Eine Aufgabenstellung, die uns nicht unerwartet, sondern mit Sicherheit und leider schon jetzt herausfordert, betrifft Maßnahmen im Zusammenhang mit der Klimakrise, der größten Krise, vor der die Menschheit steht. Sind wir für die Eindämmung der Klimakrise und der Bewältigung ihrer Folgen ausreichend gerüstet? Bei der Pandemie, die unerwartet kam, brauchte es zu Beginn eine gewisse Zeit, bis ausreichend Strukturen zu ihrer Bewältigung geschaffen waren.

Die Lehre daraus ist:

Wir müssen jetzt nachdenken, ob unsere rechtlichen Grundlagen, also Verfassung und Gesetze, und unsere Organisationsstrukturen ausreichen,  um diese Krise und ihre Folgen zu bewältigen.

Ich kann diese Frage, ob wir gerüstet sind, nicht beantworten. Aber hier im Raum ist genug Expertise versammelt,  um darauf eine Antwort geben zu können.

 

Meine Damen und Herren!

Ohne Zweifel haben die vergangenen Monate eines gezeigt: Unsere verfassungsrechtlich vorgesehenen Kontrollmechanismen funktionieren im Sinne des Bundes-Verfassungsgesetzes. Mitunter war es zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes notwendig, dass der Verfassungsgerichtshof korrigierend eingreift. So war es zum ersten Mal in der 100-jährigen Verfassungsgeschichte in dieser Form notwendig, den Art. 146 Absatz 2 B-VG anzuwenden.

Der Verfassungsgerichthof ist in all diesen Fragen seiner Rolle als Hüter der Verfassung immer zweifelsfrei und unbestritten nachgekommen.

Ich danke Ihnen allen dafür.

Verfassungstag 1. Oktober 2021
Verfassungstag 1. Oktober 2021

Fotos: Peter Lechner/HBF