Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich "100 Jahre Bundesverfassungsgesetz"

»Wir dürfen dabei nie das richtige Augenmaß verlieren«

Rede von Alexander Van der Bellen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Bundesverfassung.

Geschätzte Festgäste!

Im Mai und Juni 2019 hat die heute geltende Bundesverfassung tatsächlich ihre Eleganz gezeigt. Sie hat die Lösung der damaligen Regierungskrise ohne interpretatorische Kunststücke, allein aufgrund ihres klaren Wortlautes ermöglicht. Und ich bin immer noch beeindruckt davon, dass die Verfassungsväter offenbar die unterschiedlichsten Problemstellungen, vor denen die Republik oder der Bundespräsident stehen können, durchgedacht und sich für Lösungsmöglichkeiten, einen Lösungsweg überlegt haben.

Die Verfassung hat sich damit als ziemlich perfekter Wegweiser durch eine in der Zweiten Republik noch nie dagewesene Situationen erwiesen – wie im Mai/Juni 2019. Nicht nur, aber auch deswegen, sind wir in Österreich heute voll des Lobes für die Verfassung.

Schön, eine ideale Voraussetzung für das Fest zum 100. Geburtstag.

 

Sie ist ein Fundament unserer Demokratie. Ein Fundament der Republik Österreich.

Damals, vor 100 Jahren am Tag der Beschlussfassung hielt sich die Begeisterung in engen Grenzen. Die Republik Österreich war der von Clemenceau sogenannte „Rest“, nämlich der Rest der habsburgischen Monarchie, für den es eine staatliche Ordnung zu schaffen galt.

Dies geschah unter beträchtlichem Druck von außen und von innen.

Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges wollten mit allen Mitteln eine rechtliche Verbindung zwischen Österreich und dem Deutschen Reich verhindern. Und in Österreich selbst waren die innenpolitischen Gegensätze enorm. Das betraf vor allem die Vorstellung von „Demokratie“  - wie sie ist oder sein soll.

Während die einen nur eine sozialistische Demokratie als eine solche anerkennen wollten, sprachen sich konservative und reaktionäre Kräfte für eine sogenannte „wahre“ Demokratie aus. Das war u.a. das Schlagwort der Heimwehren.

Die langfristige Lebensfähigkeit der Republik Österreich bezweifelten und bestritten viele. Extreme Kräfte lauerten im Hintergrund. Unter solchen Umständen war es eine politische Meisterleistung, dass die Verfassung überhaupt beschlossen werden konnte.  Als ihr Architekt wird zurecht, glaube ich, Hans Kelsen genannt.

Hohe Kompromissbereitschaft von allen Seiten war die Grundlage für das Zustandekommen. Angestrebt wurde eine Verfassung, die auf den Grundsätzen einer formalen Demokratie und eines Rechtsstaats beruht mit klar definierten Minderheitenrechten.

„Demokratie“ und „Rechtsstaat“ sind zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung als leitende Grundsätze genannt. Dass sie aber solche sind, ergibt sich zweifelsfrei aus deren Inhalt. Es sind darin Grundrechte definiert, deren enge Verbindung mit dem demokratischen Prinzip evident ist: Denken Sie nur an den Gleichheitsgrundsatz, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit.

Auch das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung genannt. Aber es ergibt sich aus ihr, dass Rechtssetzung und Rechtsanwendung voneinander getrennt sein sollen.

 

Meine Damen und Herren,

wir befinden uns derzeit in einer schwierigen Zeit, für Europa, für Österreich, weltweit. Die Corona-Pandemie hat unser aller Leben nach wie vor fest im Griff. Mittlerweile ist es z.B. zur Gewohnheit geworden, täglich die Zahl der Neuinfektionen zu überprüfen. Solche Daten bestimmen nämlich in gewisser Weise den Grad unserer persönlichen Freiheit. Steigen die Krankheitszahlen, drohen in Folge Einschränkungen unserer Freiheiten.

Welchen Wert diese Freiheiten haben, ich glaube, das ist jedem und jeder von uns gerade im letzten halben Jahr schmerzlich bewusst geworden:

Die Freiheit seine Eltern zu besuchen. Die Freiheit zu reisen, Sport zu treiben, zur Schule zu gehen. Die Freiheit Freunde zu treffen oder ein Konzert zu besuchen. Das sind viele kleinen Freiheiten, die sich zu einer großen Freiheit summieren. Sie gehören zu unseren verfassungsrechtlich gewährleisten Grund- und Freiheitsrechten. Und sie wurden im letzten halben Jahr in dramatischer Weise eingeschränkt.

Das war und ist eine Zumutung. Eine notwendige Zumutung, leider!

Der im Frühjahr, meins Erachtens nach, unerlässliche Lockdown hatte dramatische Folgen:

Die Wirtschaft kam unter Druck, Arbeitsplätze gingen verloren, Menschen wurden zur Kurzarbeit angemeldet, Kinder konnten nicht zur Schule gehen, alte Menschen waren einsam.

 

Meine Damen und Herren!

In einer Demokratie gilt es laufend abzuwägen, wie viel wir von einem Grundrecht herzugeben bereit sind, um ein anderes zu schützen. Wir haben laufend die Frage zu stellen und abzuwägen, wie viel Freiheit wir bereit sind aufzugeben, um, wie jetzt im Fall von COVID 19, unsere Gesundheit zu schützen. Was braucht es für den Schutz der Gesundheit von uns allen vor dem Virus? Wieviel Einschränkung der persönlichen Freiheit ist noch verhältnismäßig? Was ist im Hinblick auf das Wohlergehen der Wirtschaft, der Erhaltung unserer Arbeitsplätze noch zumutbar?

Bei diesen im Moment ungeheuer schwierigen, aber leider notwendigen Entscheidungen ist eines essentiell, glaube ich:

Wir dürfen dabei nie das richtige Augenmaß verlieren.

Weder in die eine, noch in die andere Richtung.

Darauf werde ich, und das sage ich hier in aller Klarheit, in meiner Verantwortung als Bundespräsident, immer sorgsam und penibel achten. Mir ist wichtig, dass Einschränkungen der Grundrechte nur solange als unbedingt notwendig gelten dürfen, wie sie den besonderen Umständen dieser gesundheitlichen Krise geschuldet sind.

Ich bin froh, dass es mittlerweile darüber einen breiten politischen Konsens gibt.

 

Ich möchte Sie ermuntern, meine Damen und Herren, dass wir zu all diesen Fragen auch weiterhin eine breite gesellschaftliche Debatte führen, bei der wir abwägen und um die richtige Verhältnismäßigkeit ringen.

In den vergangenen Wochen haben wir leider gesehen, wie schnell die Zahl der Erkrankten wieder in die Höhe schnellen kann, wenn wir allzu locker mit dem Virus umgehen. Wir werden, so fürchte ich, auch in nächster Zukunft noch, immer wieder manche unserer Freiheiten einschränken müssen. Zumindest bis es eine Impfung gegen das Virus gibt.

Und dazu brauchen wir auch in der näheren Zukunft Augenmaß und Umsicht.

Das gebietet uns auch der Respekt vor unserer Verfassung. Denn niemand kann bestreiten, dass unsere Verfassung ihre Aufgabe als Basis des staatlichen Handelns und als Wahrerin der Grundrechte der Individuen in den hundert Jahren ihres Bestehens hervorragend erfüllt hat.

Das meine ich mit „Eleganz der Verfassung“!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.