»Nur wenn wir zusammenhelfen, werden wir diese Krise bewältigen«

Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Gespräch mit der Wochenzeitschrift News.

Gerade in den nächsten Wochen können wir viel dazu beitragen, das Virus einzudämmen.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen rät zu Mut und Zuversicht, aber auch zu größerer Corona-Disziplin über die Feiertage. Angesichts hoher Infektions-und Todeszahlen sei Zurückhaltung beim Feiern angesagt: "Nur wenn wir zusammenhelfen, werden wir diese Krise bewältigen".

Von Renate Kromp

Für einen österreichischen Bundespräsidenten haben Sie eine ungewöhnlich turbulente Amtszeit. Doch neben den politischen Krisen der Vorjahre hat die Corona- Krise besonderes Gewicht, weil sie alle Menschen in Österreich betrifft. Mit welcher Emotion schauen Sie auf dieses Jahr 2020 zurück?

Es stimmt, die letzten knapp vier Jahre waren ungewöhnlich bewegt. Insgesamt habe ich vier Kanzler und Regierungen erlebt. Aber heuer war schon ein besonderes Jahr. Denn was auf politischer Ebene an Krisen passiert, trifft die Leute meist ja nicht unmittelbar. Aber jetzt trifft es uns alle persönlich. Wir haben uns an viele Dinge mittlerweile gewöhnt. Bei manchem haben wir am Anfang gesagt: "Das geht gar nicht!" Das fängt ja schon beim Mund-Nasen-Schutz an. Im März war uns das noch total fremd, man kannte das nur aus asiatischen Städten, doch mittlerweile: Als Brillenträger ist das zwar nichts, was mich freut, schon allein, weil die Gläser anlaufen. Aber es geht. Wir haben uns auch daran gewöhnt, uns nicht mehr die Hände zu geben. Das finde ich zum Beispiel viel unangenehmer. Denn das ist ja doch eine Geste der Freundlichkeit oder der Höflichkeit. Oder zum Beispiel, einander zur Begrüßung zu umarmen.

Vermissen Sie diese körperliche Nähe?

Natürlich. Aber insgesamt sage ich: nur Mut und Zuversicht! Zu Anfang der Corona-Pandemie hat zum Beispiel doch niemand geglaubt, dass es so rasch einen Impfstoff geben wird. Da hat es geheißen, das dauert Jahre, bis der entwickelt und zugelassen wird. Jetzt steht die Zulassung unmittelbar bevor. Also:

In der Stunde der Not entwickeln die EU und ihre Mitgliedsstaaten ein Tempo, das manche Europa nicht zugetraut hätten.

Aus gutem Grund nicht zugetraut, viele Staaten setzen immer mehr auf Einzelkämpfertum.

Ganz am Anfang der Corona- Krise sind da zweifellos Fehler passiert, weil sich die Staaten abgeschottet haben und jeder versucht hat, zu horten, was an Schutzmaterial da ist. Aber es war schnell klar, dass das keinen Sinn hat und wir gemeinsam handeln müssen. Die Europäische Kommission hat es geschafft, mit den wesentlichen Pharmafirmen die entsprechenden Verträge zu schließen, so dass jetzt absehbar ist, dass wir mit den Impfungen Ende Dezember oder Anfang nächsten Jahres beginnen werden.

Werden Sie sich impfen lassen? Womöglich sogar mit einem Fotografen dabei, um Impfzweifler zu überzeugen?

Ich werde mich sicher impfen lassen.

Wir müssen jedenfalls darin überzeugen, dass das eine Impfung ist wie viele andere auch. Es besteht kein Grund, dieser mit großem Misstrauen entgegenzusehen. Ich hab mich im Herbst gegen Influenza impfen lassen und vor einiger Zeit gegen Pneumokokken. Es wird reingestochen und dann gehst du wieder. (Lacht.) Manche haben dann eine kleine Schwellung, manche ein bisserl Fieber -ich nicht. Diese Art von Nebenwirkungen ist ganz normal, das soll man nicht hochspielen und dramatisieren. Warum erzähle ich das? Wie viel wir uns zu Beginn des Jahres nicht vorstellen konnten und wie viel am Ende dieses Jahres doch da ist - all das wird uns nächstes Jahr helfen, diese Krise zu überstehen und Europa wieder voranzubringen. Da bin ich zuversichtlich.

Mut und Zuversicht - dazu haben Sie schon im Frühjahr aufgerufen. Jetzt, nach zehn Monaten Pandemie, scheinen aber doch Frust, Zweifel und der Unwille, sich noch an Regeln zu halten, zu überwiegen.

Ich sehe das eher so: Wir sind alle betroffen, aber ganz unterschiedlich. Der Bundespräsident hat weder Kurzarbeit, noch wird er in dieser Krise arbeitslos. Aber sehr viele Menschen sind in Kurzarbeit oder von Arbeitslosigkeit betroffen oder fürchten, dass sie arbeitslos werden. Das ist schon eine ganz andere Situation. Oder etwa junge Menschen, die wollen einander wieder treffen. Das ist doch nur allzu verständlich. Ältere Leute, vor allem wenn sie alleine leben, leiden sehr unter der Einsamkeit. Die muss man auch unterstützen. Und ganz allgemein ist es nun einmal so, dass wir alle von Covid genervt sind. Die meisten Menschen tragen zum Beispiel nicht gerne und konsequent einen Mund-Nasen-Schutz. Aber es ist einfach notwendig. Und allen, die sich nicht an den Corona-Maßnahmen beteiligen wollen, würde ich schon raten: Macht hin und wieder einmal einen Blick in die Statistik. Wie viele Corona-Tote hat es in den letzten vier Wochen gegeben? Pro Woche im Schnitt 500 bis 700. Die Intensivstationen sind nach wie vor bis zur Kapazitätsgrenze belegt. Die Ansteckungsraten sind zwar seit dem leichten und dem harten Lockdown zurückgegangen, aber das hat sich in den Intensivstationen und bei den Toten noch nicht ausgewirkt. Da gibt es eine Zeitverzögerung von mehreren Wochen. Momentan stagnieren die Zahlen auf viel zu hohem Niveau. Deshalb plädiere ich dafür, bei den Maßnahmen mitzumachen. Nur wenn wir jetzt zusammenhelfen, werden wir diese Krise bewältigen.

Das heißt, die Frage, zu wievielt wir Weihnachten oder Silvester feiern dürfen, ist eher fehl am Platz?

Die meisten Menschen in Österreich freuen sich jedes Jahr auf diese Feiertage und sind da gern mit ihren Liebsten und Freunden zusammen. Dementsprechend hart sind die Einschränkungen gerade in diesen Tagen für uns alle. Daher ist die Frage natürlich verständlich und vor allem menschlich. Es muss uns nur bewusst sein, dass wir gerade in den nächsten Wochen viel dazu beitragen können, das Virus einzudämmen.

Dennoch driftet die Gesellschaft derzeit auseinander. Die meisten Menschen sehen vor allem die eigenen Einschränkungen und schauen schief auf vermeintliche Vorteile der anderen. Im Osten sagt man, für die Skisaison im Westen bleibe man nicht zu Hause sitzen. Die Jungen sagen: "Wir wollen raus und die Älteren sollen zu Hause bleiben" - und umgekehrt. Wird sich diese Kluft von selber schließen, wenn die Krise vorbei ist, oder müssen wir daran arbeiten?

Wir müssen und wir werden daran arbeiten. Und die Arbeit wird uns auch sonst nicht ausgehen, denn mit der zunehmenden Beherrschung des Virus kommen der notwendige Neustart der Wirtschaft, der Arbeitsmarkt und die Klimakrise wieder auf die Tagesordnung. Da wird 2021 und die Jahre danach genug zu tun sein. Wir werden nicht von heute auf morgen in die sogenannte Normalität zurückkehren können.

Wie lange werden wir die Folgen der Krise spüren?

Ökonomisch gesehen werden wir 2021 wieder einen Aufschwung erleben und bessere Arbeitsmarktdaten haben. Das wird sich auch im Budget niederschlagen, aber nicht so, dass wir wieder am Stand von 2019 sind. Die Folgen der Krise werden sich mit Sicherheit bis ins Jahr 2022 ziehen.

Wie lange werden wir für den Abbau der Schulden brauchen, die wir jetzt in der Krise anhäufen? Wie schmerzhaft wird das für die Österreicherinnen und Österreicher?

Das beunruhigt mich im Moment am allerwenigsten. Offenbar besteht eine Riesenbereitschaft auf den Kapitalmärkten, nicht nur die nationalen Budgetdefizite zu finanzieren, sondern es herrscht auch großes Interesse am 750-Milliarden-Euro-Hilfspaket der EU. Also, wenn man es volkstümlich ausdrückt: Das Geld ist da, und die Nachfrage ist da. Wir schauen immer auf die Schuldenseite, aber was ist mit den Gläubigern? Und solange die Zinssituation so ist, wie sie jetzt ist, haben wir die eigenartige Situation, dass zwar die Schulden aller EU-Mitgliedsstaaten in der Krise steigen, aber die Zinsausgaben in den Budgets sinken. Ich habe Zeiten erlebt, wo die Zinsausgaben in Prozent des BIP viel höher waren als jetzt, trotz niedrigerer Verschuldung.

Das heißt, der Volkswirtschaftsprofessor in Ihnen sagt?

Das passt schon!

Was macht die Krise mit dem Vertrauen in die Politik? Zum ersten Lockdown hatte die Bundesregierung fast unwirklich hohe Zustimmungswerte, nun wird die Kritik der Opposition lauter und das Vertrauen sinkt. Und jeder in der Politik schaut eher darauf, wie er bei der eigenen Wählerschaft punktet, und nicht darauf, ob er dabei Zweifel an den Pandemiemaßnahmen sät.

Abgesehen davon, dass der Bundespräsident nicht der Notengeber für Regierungs-oder Oppositionsfraktionen ist, würde ich einmal sagen: Man muss immer, vor allem aber in der Krise, auf die Sprache achten. Darauf, dass man einander nicht verächtlich macht, dass man einander zugesteht, dass in so einer Situation sehr rasche, sehr schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden müssen, die sich dann halt im Nachhinein möglicherweise als großteils richtig, aber manchmal auch als knapp daneben oder so herausstellen.

Oder manchmal auch sehr daneben und zu spät.

Das kann auch passieren. Und für eine Oppositionspartei ist das natürlich zu Recht ein Anlass für Kritik. Das ist auch die Aufgabe der Opposition. Aber ich weiß, wie das ist, wenn man unter großem Zeitdruck solche schwerwiegenden Entscheidungen zu treffen hat.

Die Opposition würde ja gerne mehr mitentscheiden.

Ich war 18 Jahre lang im Parlament und dort immer in der Opposition. Im Wiener Gemeinderat war ich dann in der Regierungsfraktion. Ich kenne also beide Seiten. Ich kann die Schwierigkeiten und den Frust einer Oppositionsfraktion sehr gut nachvollziehen. Oft fühlt man sich zu wenig und nicht rechtzeitig informiert. Dabei haben die Regierungsfraktionen vielleicht so viel Zeit miteinander benötigt, dass sie gar nicht dazugekommen sind, die anderen rechtzeitig ins Boot zu holen.

Natürlich wäre rechtzeitige Information wichtig. Aber ich würde das nicht als Zeichen dieser Krisesehen. Sondern das gibt es auch in normalen Zeiten.

Auch wenn Sie keine Noten geben wollen

Genau.

Die Regierung ist jetzt bald ein Jahr im Amt. Fragen wir so: Läuft es so, wie Sie es erwartet haben -unabhängig davon, ob gut oder schlecht?

Ich habe so wie jeder andere diese Krise nicht erwartet. Insofern ist das schwer zu sagen. Die Regierungsverhandlungen waren kaum abgeschlossen, stand schon das Virus auf der Bühne. Nun mussten die akuten Fragen sofort gelöst werden. Ich würde bei dieser Gelegenheit dafür plädieren, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass, wenn die Corona-Krise einmal beherrscht ist, andere Krisen, die hinter der Hausecke lauern, nicht verschwunden sind. Insbesondere die Klimakrise.

Im Europäischen Rat hat man sich jetzt darauf geeinigt, die Klimaziele der EU insgesamt zu verschärfen, bis 2030 um 55 Prozent. Das freut mich außerordentlich.

Und ich bin zuversichtlich, dass nun mit den Maßnahmen nachgezogen wird. Zehn Jahre sind nämlich eine verdammt kurze Zeit. In der Klimapolitik geht es um langfristige Prozesse: Die Emissionen von heute verharren Jahrzehnte in der Atmosphäre und einen Rückgang können wir erst in ferner Zukunft als Erfolg verzeichnen. Und Unternehmer, egal in welcher Branche, müssen wissen, mit welchen Maßnahmen in der Klimapolitik sie in welchem Zeitraum rechnen müssen, damit sie sich darauf einstellen können.

Kommen die Maßnahmen nicht ohnehin um Jahrzehnte zu spät?

Es stimmt, die Zeit drängt. Und wir müssen auch bei trivialen Fragen anfangen. Etwa: Haben wir überhaupt genug ausgebildete Mitarbeiter für Elektrotechnik, Installationen, Heizungstechnik etc., um die Häuser klimafit zu machen? Wenn nicht, dann ist es jetzt höchste Zeit, mit der Ausbildung zu beginnen. Dass es im Moment Qualifizierungsprogramme für Menschen, die jetzt arbeitslos sind, gibt, wird nicht genügen.

Kann man überhaupt noch hoffen, dass sich die Menschen in der Klimakrise vernünftig verhalten?

Wir haben es nicht einmal bei der Corona-Pandemie, bei der die Gefahr unmittelbar vor uns stand, geschafft, eigenverantwortlich und vernünftig zu agieren. Wie soll das dann bei einer Krise funktionieren, deren Auswirkungen manche noch gar nicht so sehr spüren?

Das würde ich nicht so sehen. Ich beschäftige mich mit der Problematik seit der Mitte der 1980er-Jahre. Als Ökonom. Klimaforscher haben sich schon Jahrzehnte vorher damit befasst.

Und in diesen Jahrzehnten ist tatsächlich nicht allzu viel passiert. Jetzt aber habe ich in den verschiedensten Bereichen den Eindruck, dass erstaunlicherweise die Vertreter der Wirtschaft weiter sind als die Politik. Das ist insofern erstaunlich, als die Klimakrise ja geradezu der Prototyp eines Marktversagens ist, weil die Treibhausgasemissionen nicht ausreichend bepreist sind und daher die Kosten von Produktion und Konsum nicht ausreichend widerspiegeln. Aber im Bereich der Banken und Versicherungen findet nun ein Umdenken statt, welche Risiken da auf sie zukommen. Banken achten darauf, ob Unternehmen bei kreditfinanzierten Investitionen die Zeichen der Zeit erkannt haben. Anlässlich der UN-Generalversammlung vor zwei Jahren hat der französische Präsident Macron ein Meeting mit CEOs großer Investmentfonds organisiert.

Die haben übereinstimmend geschildert, sogar jene aus Saudi-Arabien, dass ihre Kunden Druck machen: "Gehts raus aus den fossilen Brennstoffen und schaut auf die Nachhaltigkeit. Geht rein in klimapolitische Wachstumsbranchen."

Und das macht irgendwann den nötigen Druck auf die Politik?

Das und die jungen Leute. Das ist ja auch neu, dass die auf die Straße gehen und sich melden.

Früher gab es einen Einfluss von den Älteren zu den Jüngeren. Wie man erzogen wird und welche Werte man hochhalten soll. Jetzt aber beeinflussen die jungen Leute ihre Eltern und Großeltern. Es gibt mittlerweile nicht nur Fridays for Future, sondern auch Parents for Future. Das alles hat sich in erstaunlich kurzer Zeit getan, und das wird die Politik auf Dauer nicht übersehen können.

Im nächsten Jahr feiert ein Satz quasi 50. Geburtstag, den sich Österreich fast zum Lebensmotto gemacht hat: Österreich ist eine Insel der Seligen, hat Papst Paul VI. im Jahr 1971 gesagt.

Ist dieser Ausspruch in Würde gealtert oder ist er mittlerweile so etwas wie die österreichische Lebenslüge?

Insel der Seligen. Damit konnte ich nie viel anfangen. Aber der Papst hat vielleicht damit gemeint, dass es doch erstaunlich ist, was dieses kleine Land im Lauf der Jahrzehnte seit 1945 auf die Beine gestellt hat. Ich möchte meinen deutschen Freunden nicht zu nahe treten, aber das BIP pro Kopf ist in Österreich höher als in Deutschland. Heuer möglicherweise nicht, weil wir stärker vom Fremdenverkehr abhängen als die Bundesrepublik. Aber ich erinnere mich an Zeiten, wo wir Österreicher uns nicht nur als Land, sondern auch psychologisch klein fühlten. Doch mittlerweile ist das österreichische Selbstbewusstsein so gestiegen, dass wir vollkommen normal mit unseren Nachbarn, egal in welcher Richtung, umgehen. Insel der Seligen - na ja, Insel waren wir nie. Aber ich finde das ironisch, dass der Papst das 1971 gesagt hat. Das war das erste Jahr von Bruno Kreisky, zur Zeit der ersten sozialistischen Alleinregierung in Österreich.