Bundespräsident Alexander Van der Bellen spricht mit der Kleinen Zeitung.

»Ich bin stolz auf unser Österreich, auch wenn es an der Oberfläche brodelt«

Bundespräsident Alexander Van der Bellen bilanziert mit der Kleinen Zeitung das Jahr 2021.

Herr Bundespräsident, wenn Sie auf dieses verhaltensauffällige Jahr zurückblicken – wie würden Sie es charakterisieren?

ALEXANDER VAN DER BELLEN: Fad ist mir nicht geworden. Insgesamt finde ich, haben wir in Österreich die Nerven nicht verloren.

Sie nicht – das Land schon, wenn man auf die Straßen schaut. Hat Ihre legendäre Zuversicht keine Schrammen abbekommen?

Nein.

Insgesamt bin ich stolz auf unser Österreich, auch wenn es an der Oberfläche oft brodelt.

Sie meinen, das Land ist einfach leicht erregbar?

Man dachte etwa bei der Debatte um die Mariahilfer Straße, die Welt ginge unter, aber heute würde sie niemand wieder rückbauen wollen, auch die Wirtschaft nicht.

Im Moment haben wir natürlich eine besonders herausfordernde Situation. Viele Menschen haben existenzielle Probleme, andere haben nach fast zwei Jahren Pandemie psychische Probleme. Aber ingesamt glaube ich, wir werden das schon schaffen.

Wir werden die Probleme gemeinsam meistern.

Sie meinen, auch die neuen Wunden werden wieder heilen?

Das glaube ich. Die neue Bundesregierung hat eine echte Chance und auch den Willen, für Stabilität zu sorgen und die dringendsten Fragen anzugehen. Da ist leider die neue Virusvariante Omikron, aber die alten Probleme sind auch nicht verschwunden. Die Klimakrise bedroht uns alle, irgendwann werden wir uns der Pflegereform wirklich widmen müssen, und, und, und.

Drei Kanzler in einem Jahr, sind das italienische Verhältnisse?

Wollen wir nicht übertreiben. Sebastian Kurz war fast zwei Jahre türkis-grüner Kanzler, dann hatten wir ein Interregnum mit Alexander Schallenberg.

56 Tage dauerte seine Ära.

Mir ist es kürzer vorgekommen. Unterm Strich sehe ich es unaufgeregt. Wenn man Sebastian Kurz gut kennt, dann war es nur eine Frage der Zeit, wie lange er es als Abgeordneter aushält. Ich habe ihn kürzlich getroffen, da machte er einen sehr gelösten Eindruck auf mich.

Vielen Bürgern schienen die Personen in höchsten Ämtern wie Schachfiguren, die man verschiebt. Sie haben sich gefügt.

Der Bundespräsident hat eine neutrale Rolle einzunehmen. Ich habe mit einer Rot-Schwarzen Bundesregierung begonnen, dann kam Türkis-Blau. 2019 waren es in kürzesten Abständen mehrere Kabinette, bis zur Regierung Bierlein und dann Türkis-Grün. Ich habe mich dabei immer neutral verhalten. In wenigen Einzelfällen habe ich allerdings hinter der Tapetentüre ein Veto bei bestimmten Personen eingelegt.

Hätten Sie gegen Herbert Kickl damals Ihr Veto einlegen sollen?

Rückblickend würde ich sagen, Herbert Kickl als Innenminister war wirklich eine große Belastung. Zufällig war das nicht, dass mir Sebastian Kurz seine Entlassung vorgeschlagen hat. In der Geschichte der Republik war das ein einmaliger Fall.

Und der neue Kanzler?

Mit dem Innenminister Karl Nehammer habe ich gut kooperiert, auch wenn ich etwa in Asylfragen nicht mit ihm übereinstimme. Aber im Großen und Ganzen war die gegenseitige Information sehr gut, im Gegensatz zu Herbert Kickl – das kann ich mir nicht verkneifen. Ich denke, dass Karl Nehammer eine Chance hat, ein guter Bundeskanzler zu werden.

Woraus schließen Sie das?

Er hat sich gleich von Anfang an sehr bemüht, keine Gräben zu vertiefen, hat gleich Kontakt zu den Sozialpartnern und den Oppositionsfraktionen aufgenommen. In diesem Punkt war ich mit Sebastian Kurz nicht einer Meinung. Es bewährt sich nicht, mit jemandem nur dann zu reden, wenn man ihn braucht. Das merken sich die Menschen und dann wird es umso schwieriger, wenn man sie wirklich braucht, etwa für ein Verfassungsgesetz.

Woran ist Sebastian Kurz gescheitert, was bleibt von ihm?

In Tirol gibt es einen zynischen Ausdruck über abgestürzte Bergsteiger: „Warsch it auachagstiege, warsch it ochagfloage“. Aber der erklärt es nicht. Wir wollen natürlich alle aufsteigen. Sebastian Kurz war sicher ein politisches Ausnahmetalent. Man muss an ihm nicht alles mögen. Ich hatte manchmal Schwierigkeiten zu verstehen, warum er etwas tut oder sagt. Ich bin dann draufgekommen, dass ich persönlich als Wähler vermutlich nicht zu seiner Zielgruppe gehöre. Als mir das einmal klargeworden ist, war es schon viel leichter.

Die Opposition fordert wegen der Regierungsumbildung Neuwahlen. Hat die neue Regierung ein Legitimitätsproblem?

Politisch kann man es so interpretieren. Aber als Bundespräsident stelle ich fest, dass wir eine Bundesregierung mit Mehrheit im Parlament haben, und das ist die Legitimation, die sie braucht.

Umfragen zeigen ein Misstrauen gegen Politik wie in Rumänien.

Das ist eine Momentaufnahme und natürlich müssen wir jetzt alle daran arbeiten, das zu verbessern: die Bundesregierung, die Abgeordneten, die Medien und jeder Einzelne. Die negative Stimmung hängt sicher auch sehr am Virus, dem verdammten, dem keine und keiner auskommt.

Man hat das Gefühl, ein Funke reicht, dass etwas Schlimmes passiert. Wohin soll das führen?

Wir wollen es nicht herbeireden. Sind die Demonstrationen gegen die Impfpflicht, gegen das Virus oder sind sie ein Ausdruck allgemeiner Verunsicherung? Ich sehe schon die Gefahr, dass in einer aufgeheizten Stimmung plötzlich etwas passiert, was unter normalen Umständen nicht passieren würde. Wir sind nicht das einzige Land, wo man sich solche Sorgen macht. Ich würde dennoch sagen, behalten wir die Nerven. Nicht jeder, der jetzt gegen das Impfen demonstriert, ist ein Unbelehrbarer oder nimmt die Realität nicht zur Kenntnis. Wir müssen den Kontakt aufrechterhalten und ich weiß, Ihre Zeitung bemüht sich, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen.

Vor der Hofburg hört man Parolen wie „Freiheit, Freiheit, keine Diktatur“. Was denken Sie sich da?

Wir haben hier einen Grundrechtekonflikt zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Pflicht des Staates, auch für Gesundheit zu sorgen. Zwischen Freiheit und Gesundheit entstehen zu Zeiten einer Pandemie laufend Konflikte und immer wieder müssen wir abwägen, wo geben wir ein bisschen etwas her, damit das andere besser geschützt wird. Wir haben eine Instanz, bei der man sich beschweren kann und die dann endgültig ein Urteil fällt – den Verfassungsgerichtshof. Aber inzwischen muss man sich an die Regeln halten.

Man kann auch gegen die Gurten-Pflicht im Auto gewesen sein, aber wenn sie dann einmal eingeführt ist, muss man sich daran halten.

Ist eine Impfpflicht da hilfreich oder eher gefährlich?

Manche Experten glauben, sie könnte für Impfgegner sogar eine Erleichterung sein, denn so verlieren sie in ihrer Umgebung nicht das Gesicht, nach dem Motto: „Ich wollte mich ja gar nicht impfen lassen, aber jetzt muss ich halt.“ Aber ein Kinderspiel ist das weder juristisch noch administrativ, denn jemand muss das Ganze ja durchführen. Ich habe alle betroffenen Minister ersucht, sich gut zu überlegen, wie das konkrete Handling sein wird.

Herbert Kickl hat seine FPÖ auf sehr radikale Positionen geführt. Wie umgehen mit ihm?

Wenn ich es richtig sehe, sind die Aussagen Herbert Kickls nicht strafrechtlich relevant. Wenn jemand sagt, Österreich ist keine Demokratie mehr, sondern eine Diktatur, dann denke ich mir, ach so, und bist du nicht Parlamentarier in einem Mehrparteien-Parlament? Es fällt mir schwer, so etwas ernst zu nehmen.

Das Urteil fällt der Souverän?

Wenn wir darauf nicht vertrauen würden, wären wir dann Vertreter der liberalen Demokratie?

Natürlich vertrauen wir darauf, aus vollem Herzen.

Und in der Zwischenzeit ist Ironie ein gutes Mittel?

Der Bundespräsident tut gut daran, auch da Maß zu halten. Aber ich bin wirklich froh, in einem Land zu leben, wo einem der Schmäh nicht ausgeht.

Verraten Sie uns zuletzt noch, ob Sie 2022 wieder antreten?

Geduld ist eine wertvolle Eigenschaft.

Es wäre in diesen prekären Zeiten schön, wenn Sie jetzt schon sagen könnten, ich bleibe, als Klammer in brüchigen Zeiten.

Ich könnte jetzt sagen: Freuen Sie sich darauf, mir im Oktober wieder Ihre Stimme geben zu können, aber ich bitte um Geduld für meine Entscheidung.