Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Interview mit der Tiroler Tageszeitung

»Wir sollten nicht in Panik verfallen, aber das Notwendige tun«

Interview von Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit der Tiroler Tageszeitung.

Sie haben bei der Angelobung des neuen Bundeskanzlers Karl Nehammer der Regierung mit auf den Weg gegeben, man solle im Zusammenhang mit der Corona-Krise „bei der Bevölkerung keine falschen Erwartungen wecken“. Anders formuliert. Getraute sich die Regierung in der Vergangenheit nicht die Wahrheit zu sagen?

Van der Bellen: Es war wohl im Sommer dieses Jahres die Hoffnung und Erwartung zu groß, dass die Pandemie bekämpft sei. Heute wissen wir, man muss bei dieser Gesundheitskrise täglich dazulernen. Und man muss genau zuhören, was die Experten und Expertinnen sagen. Deshalb mein Appell an die Regierung: Hört zu!

Zwei Jahre lange hieß es von allen politischen Seiten: Es wird keine Impfpflicht geben. Jetzt kommt sie. Man spricht von Ultima Ratio. Wie stehen Sie zur Impfpflicht? Befürchten Sie eine zusätzliche Spaltung der Gesellschaft?

Van der Bellen: Nur weil Menschen unterschiedlicher Meinung sind, sollte man nicht von Spaltung sprechen.

Dann spreche ich von einer zunehmenden Radikalisierung in Teilen der Gesellschaft.

Van der Bellen: Ich erkenne eine Gemengelage aus Gesundheitskrise, Angst um den Arbeitsplatz oder um das eigene Unternehmen, die Unsicherheit in den Schulen usw. Also in Summe alles sehr berechtigte Sorgen.Ich habe schon die Hoffnung, dass wir die Pandemie unter Kontrolle bringen können und dass wir keinen neuen wirtschaftlichen Einbruch erleben.

Wir sollten nicht in Panik verfallen, aber das Notwendige tun.

Kommen wir noch einmal zur Impfpflicht?

Van der Bellen: Das Gesetz ist in Begutachtung. Ich gehe davon aus, dass alle zuständigen Behörden, alle die hierzu etwas zu sagen haben, sich in diesen Prozess einbringen. Es gibt empirische Untersuchungen, wonach wir damit rechnen können, dass sich durch dieses Gesetz viele Menschen impfen lassen. Vor allem bei Impfskeptikern könnte es darum gehen, ohne Gesichtsverlust zur Impfung gehen zu können. Ich bin übrigens drei Mal geimpft - ohne Nebenwirkungen.

Aber sollten wir noch bis Ende Jänner eine Durchimpfungsrate von 90 Prozent erreichen, braucht es dann überhaupt das Gesetz zur Impfpflicht?

Van der Bellen: Das zu beurteilen ist Aufgabe des Gesetzgebers und der Regierung. Ich werde das alles genau beobachten,

Sehen Sie die FPÖ noch innerhalb des Verfassungsbogens und ist für Sie Herbert Kickl noch ministrabel?

Van der Bellen: Wenn Herbert Kickl sagt, Österreich sei eine Diktatur, dann sollte er doch wissen, welche Funktion er innehat: Er ist Klubobmann einer Fraktion in einem frei und demokratisch gewählten Parlament, wo selbstverständlich Redefreiheit herrscht. Als Bundespräsident nehme ich zur Kenntnis, dass es im Parlament eine Fraktion gibt, die nahezu alles ablehnt, was zur Pandemiebekämpfung beschlossen wird. Das bedauere ich, aber ich habe als Bundespräsident keinerlei Handhabe für Sanktionen gegenüber Abgeordneten. Das ist auch Demokratie. Und das ist gut so.

Bei der Regierungsbildung wäre das anders. Ist Kickl ministrabel?

Van der Bellen: Diese Frage stellt sich nicht. Kickl hat sich meines Erachtens selbst aus dem Spiel genommen. Keine der anderen im Parlament vertretenen Parteien will mit dieser Art von Politik etwas zu tun haben. 

Ihre bisherige Amtszeit ist mit dem Begriff „politische Krise“ zusammenzufassen, und dies klingt dann noch untertrieben. Im Zentrum dieser Krise steht ein Name. Sebastian Kurz: Wie beurteilen Sie seinen Aufstieg und Fall.

Van der Bellen: Sebastian Kurz ist ein politisches Talent ersten Ranges. Sonst hätte er nicht diesen Erfolg gehabt. Ich hatte mit ihm ein gutes Arbeitsverhältnis, auch wenn ich öfter nicht seiner Meinung war. Er war ein kühler Rechner. Ich sehe seinen endgültigen Rückzug aus der Politik als wohl überlegt an. Ich habe diese Woche mit ihm gesprochen. Ich erkannte keinen Groll. Ich denke, er hat für sich die richtige Entscheidung getroffen.

Haben Sie in Sebastian Kurz einen Narzissten erkannt?

Van der Bellen: Das kann ich nicht beurteilen, ich bin weder Arzt noch Psychologe.

Sie sagten, sein Rückzug aus der Politik sei wohl überlegt. Wäre es im Nachhinein nicht klüger gewesen, Kurz hätte statt Alexander Schallenberg gleich Karl Nehammer als seinen Nachfolger vorschlagen sollen?

Van der Bellen: Wir werden diese 56 Tage Kanzlerschaft von Alexander Schallenberg wohl einmal als Fußnote der Geschichte betrachten. Und Sebastian Kurz ist kein Parlamentarier. Das ist nicht sein Metier. Deshalb sah ich seine Übersiedlung vom Kanzleramt ins Parlament nur als Übergang. Ich glaube, mit Karl Nehammer gibt es eine Chance für einen Neubeginn. Er ist etwa gleich auf die anderen Parteichefinnen und -chefs zugegangen.

Laut der jüngsten Erhebung des „Österreichischen Demokratie Monitor“ glauben 58 Prozent der Bevölkerung, dass das politische System derzeit wenig oder gar nicht funktioniert. 90 Prozent sehen in der österreichischen Politik ein Korruptionsproblem. War Ihre Einschätzung nach Ibiza vielleicht zu großherzig: Wir sind vielleicht doch so?

Van der Bellen: Das Ergebnis dieser Umfrage überrascht mich jetzt angesichts von Pandemie und politischen Turbulenzen nicht. Aber es ist eine Momentaufnahme. In sechs Monaten können wir schon wieder völlig andere Daten haben. Die Regierung muss natürlich durch harte, seriöse Arbeit das Ihrige dazu beitragen.

Mit der Angelobung von Gerhard Karner zum Innenminister wurde wieder eine Debatte über Engelbert Dollfuß entfacht. Was haben Sie für ein Bild von Dollfuß?

Van der Bellen: Er hat das Parlament ausgeschaltet, die Demokratie abgeschafft und sich zum Diktator aufgeschwungen. Dollfuß hat Arbeiter töten lassen und ist von den Nazis ermordet worden.

War er ein Faschist?

Van der Bellen: Ja, ein Austrofaschist.

Das Magazin „Politico“ zählt Sie zu den einflussreichsten politischen Persönlichkeiten Europas. Auch deshalb, weil Sie die Regierungskrisen seit 2018 so gut gemanagt haben. Im Herbst des nächsten Jahres wird der Bundespräsident neu gewählt. Wann sagen Sie uns, ob sie für eine zweite Amtszeit antreten werden?

Ich verspüre hierfür noch keinen besonderen Zeitdruck.

Sollte Ihrer Meinung nach verhindert werden, dass im Herbst Nationalrats- und Bundespräsidentenwahlen stattfinden.

Van der Bellen: Ich denke, es findet im kommenden Jahr keine Nationalratswahl statt. Ich erkenne weder bei ÖVP noch bei den Grünen einen Anreiz, die Regierung platzen zu lassen.