Rede des Bundespräsidenten bei Symposion beim Symposion  „Zur Zukunft der Demokratie – Wie stärken wir die Republik?“

»Der Krieg in der Ukraine zeigt sehr klar, wie wertvoll Demokratie ist«

Rede des Bundespräsidenten beim Symposium »Zur Zukunft der Demokratie – Wie stärken wir die Republik?« in Berlin, Schloss Bellevue.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

lieber Frank-Walter!

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Auch ich möchte, bevor ich enger auf das Thema eingehe, kurz innehalten und an all die Menschen in der Ukraine denken, die in diesen Stunden um ihr Land, ihre Demokratie, ihr Leben kämpfen. Es ist herzzerreißend, wenn ich an all die unschuldigen Kinder, deren Mütter und Väter denke, Menschen, die einfach nur in Frieden leben wollen und die seit Tagen in Kellern, Luftschutzbunkern oder U-Bahnstationen ausharren müssen. Die auf der Flucht sind. Menschen, deren Leben bedroht ist. Es ist schrecklich. Es ist verachtenswert und wir alle müssen jetzt zusammenstehen und einstehen für das, woran wir glauben.

 

Wie ist es so weit gekommen?

 

Meine Damen und Herren, lieber Herr Bundespräsident, lieber Frank-Walter,

vielen Dank für die Einladung hier gemeinsam mit Ihnen im Saal über Demokratie nachdenken und diskutieren zu dürfen.

 

Niemand hätte sich noch vor wenigen Wochen vorstellen können, dass wir heute einen Angriffskrieg in Europa erleben. Vieles von dem, was wir für eherne Gewissheiten gehalten haben, sehen wir in Frage gestellt. So wie Du in Deiner Rede sagst, lieber Frank-Walter, was wir jetzt brauchen ist Vernunft, Wehrhaftigkeit, das Hochhalten der liberalen Demokratie, Wertschätzung dem gegenüber, was wir haben, Achtsamkeit in der Sprache, aber auch den Willen zu sprechen, zu verhandeln.

 

Du hast ein schönes und berühmtes Zitat von Kennedy erwähnt:

Let us never negotiate out of fear. But let us never fear to negotiate.

Kennedy wusste, wovon er sprach.

 

Du hast auch gesagt – ich zitiere: „Die liberale Demokratie ist die einzige politische Ordnung, in der wir uns als politisch Freie und Gleiche den Tatsachen der Welt stellen; in der wir unser Schicksal nicht in fremde Hände legen, sondern Vertrauen in unsere Fähigkeit haben, Probleme gemeinsam zu lösen; in der wir aus Fehlern lernen, unseren Kurs immer wieder korrigieren und die Dinge gerade deshalb zum Besseren wenden können.“

 

Dafür braucht es ein gemeinsames Verständnis darüber, was ein Problem eigentlich ist; ein Verständnis von der Wirklichkeit.

 

Also ich hätte vor zwanzig Jahren nicht geglaubt, dass wir uns eines Tages damit auseinandersetzen müssen, dass wissenschaftliche Ergebnisse, dass bloße Fakten, Tatsachen, nicht nur in Zweifel gezogen, sondern schlicht geleugnet werden. Und zwar nicht nur von einigen Sonderlingen, sondern von einer hinreichend großen Zahl an Menschen, ja sogar von manchen politischen Akteuren, sodass dadurch unser gesamtes Gesellschafts- und Wertesystem in Frage gestellt wird. Denn für jedes Faktum gibt es plötzlich einen sogenannten „alternativen Fakt“. - Was für ein schreckliches, jede Intelligenz verächtlich machendes Wort.

 

Noch vor dreißig Jahren hat man vom „Ende der Geschichte“ gesprochen, heute muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir in einer Zeit der vielen, einander widersprechenden, alternativen Geschichten leben. Eine Zeit der Stories und der sogenannten Narrative. Rückblickend kann man sagen: Es war nicht das Ende der Geschichte, es war der Beginn der Geschichtchen.

 

Geschichtchen, die scheinbar gleichwertig nebeneinanderstehen, frei wählbar, als wären sie Konsumprodukte in einem beliebigen Supermarkt. Geschichtchen, die teilweise so hanebüchen sind, dass es unfassbar ist, dass irgendjemand sie glauben kann. Diese Geschichtchen, verpackt, aufgemascherlt, in verschiedenen Graden der Glaubwürdigkeit, bilden das Gewebe, das viele von uns für unseren Alltag und schlechterdings für die Wirklichkeit halten.

 

Zusammengestellt beziehungsweise konstruiert werden sie nicht von unserer selektiven Wahrnehmung, sondern von Algorithmen. Algorithmen, die der Motor der kulturell mittlerweile dominanten Form des Informationserwerbes, der „sozialen Medien“ sind.

 

Ich bin der letzte, der soziale Medien grundsätzlich verdammt. Ich glaube nicht, dass ich den Präsidentenwahlkampf 2016 in Österreich gewonnen hätte ohne soziale Medien. Nur damit das klar ist.

 

Aber sie haben auch eine andere Seite. Sie sind sozusagen ein digitaler Schleier geworden, den viele von uns zwischen sich selbst und die Wirklichkeit gezogen haben. Ein Schleier, der unseren Blick auf die Wirklichkeit filtert und verändert. Und die uns immer wieder Informationen anbieten, die nicht unbedingt wahr sein müssen, aber dafür ein möglichst hohes Aufregungspotenzial in sich tragen. Denn Aufregung erhöht die Verweildauer im Medium. Und Verweildauer erhöht den Profit des Medieninhabers.

 

Meine Damen und Herren,

 

es ist einer liberalen Demokratie unwürdig, dass diese Algorithmen zwar einen massiven, prägenden Einfluss auf unser Alltagsbewusstsein haben, wir aber nicht wissen, wie sie konstruiert sind. Wir sehen nur die Auswirkungen. Und diese legen den Schluss nahe, ich kann es nicht anders sagen: Hier wird mit Lügen Profit gemacht. Hier werden Wahrheit und Fakten relativiert. Hier wird aus Aufregung eine Schein-Wirklichkeit konstruiert.

 

Vielleicht übertreibe ich. Dann bin ich froh, wenn Sie mich beschwichtigen. Es kann ja sein, dass diese, nennen wir es Ignoranz, eine partielle ist, dass jemand nur in einem Punkt jenseitige Ansichten hat durch den Konsum der sozialen Medien und durch die entsprechenden Algorithmen – dass dieser Jemand nur in diesem einen Punkt sozusagen eine abweichende Meinung hat, aber sonst ein ganz normaler intelligenter, vertrauenswürdiger und fähiger Mensch ist – und ich kenne solche Menschen.

 

Die Frage ist also: Mache ich hier aus einem kleinen Problem ein Riesenproblem oder gefährdet das tatsächlich in der längeren Sicht unsere Demokratie? Wenn ja, sollten wir in unserer Sprache klarer werden als bisher und nicht wo viel beschwichtigen. Wir sollten die Kategorien „Wahrheit“ und „Lüge“ wieder mehr gebrauchen. Denn sie spielen nicht nur im Augenblick eine große Rolle.

In Russland ist es von der Zensur verboten, von einem „Krieg“ zu sprechen. Aber was ist es denn sonst?

 

Und es gibt immer noch Leute, die das Wort „Klimakrise“ nicht in den Mund nehmen wollen, die schlicht leugnen, dass das eine anthropogene, also eine menschengemachte, Klimakrise ist. Das sind aber nicht einfach drollige „Fake News“, das ist eine glatte, unverschämte Lüge mit einem potenziell fatalen Effekt für die gesamte Menschheit. Und als solche muss sie auch benannt werden.

 

Die Feinde der Demokratie verdrehen die Wahrheit. Sie beziehen ihren Einfluss aus der Relativierung, Verfälschung von Dingen, die nicht relativierbar sind. Vielleicht sind wir nachlässig und an der falschen Stelle tolerant geworden.

 

Es ist hier nicht nur die Politik, die zur Verantwortung gezogen werden muss, sondern ich würde noch einen Schritt weitergehen. Sogenannte „Fake News“ sind Geschichten, die man einfach weitererzählt. Die Verantwortung des Menschen, der sie weiterverbreitet, wird ausgeblendet. Es ist nicht nur das Medium. Es sind die Leute, die das Medium benutzen und das ungefiltert weitergeben. Hinter jeder dieser Kampagnen stehen Interessen. Und jeder, der die „Fake News“ verbreitet, wird zu ihrem Absender. Und damit mitverantwortlich.

 

Diese persönliche Verantwortung des Einzelnen hat mit unserer Demokratie sehr viel zu tun. Denn jede und jeder ist mitverantwortlich für das Gelingen von Demokratie. Sie ist nicht etwas, in das wir einfach hineingeboren werden und dann funktioniert das schon. Sondern, wie wir handeln, wie wir entscheiden, wie wir reden, das entscheidet, ob Demokratie möglich ist oder nicht.

 

Als Bundespräsident bin ich gehalten, mich vorsichtig auszudrücken, neutral zu sein, über den Dingen zu stehen, so weit möglich, aber manchmal ist das sehr schwer. Also bei uns in Österreich, so wie in anderen Ländern auch, hat es im Zuge der Pandemie Demonstrationen gegeben. Das ist ein Grundrecht. Versammlungsfreiheit wird nicht in Frage gestellt. Aber was ist mit denen, die vorsätzlich, systematisch versuchen, den Menschen einzureden, sie würden in einer Diktatur leben. Ich habe die Bilder vor mir: „Freiheit“, „Diktatur". Freiheit ist, wenn man die Pandemie ignoriert. Diktatur ist das, was die Politik versucht, um das Gesundheitssystem nicht kaputt gehen zu lassen.

 

In der Ukraine gehen jetzt Menschen auf die Straße. Sie stellen sich jetzt Putins Panzern entgegen, weil Sie nicht in einer Diktatur leben wollen. Wir dürfen uns Begriffe wie „Diktatur“ nicht relativieren lassen. Wir müssen wieder klarer unterscheiden zwischen der Wahrheit und der Lüge. Wir müssen diese klarer benennen. Denn nur so können wir die Wirklichkeit als solche sehen und erkennen – die Grundlage für ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit. Demokratie kann Relativierern und Lügnern gegenüber nicht tolerant sein.

 

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Sie erinnern sich an Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte. Grundrechte, Freiheitsrechte, Menschenrechte, Minderheitenrechte sind die Grundlagen einer liberalen Demokratie. Und es war offenbar in den letzten zwei Jahren schwer, vielen Menschen klar zu machen, dass es zwischen bestimmten Grundrechten Konflikte geben kann. Zwischen dem Grundrecht auf Freiheit und dem Grundrecht auf Gesundheit gibt es einen Konflikt in einer Pandemie. Zwischen Freiheit und Gleichheit gibt es laufend Wertekonflikte und die Politik ist gehalten, hier die richtige Balance zu halten. Es kann keine Rede davon sein, dass, wenn die Politik hier eine Abwägung trifft zwischen Grundrechten, dass es deswegen eine Diktatur ist. Ja, die Mehrheit muss hier nicht immer Recht haben. Das stimmt, die Mehrheit hat nicht immer Recht. Und deswegen braucht es nicht nur Minderheitenrechte, sondern The Rule of Law, der einen Weg zum Verfassungsgerichtshof ermöglicht. Tatsächlich wurde dieser Weg in einer Reihe von Fällen beschritten. Manchmal haben die Kläger Recht bekommen und manchmal eben nicht.

 

Noch einmal – wenn ich das zu ernst nehme, beruhigen Sie mich.

 

Abschließend vielleicht: die Notwendigkeit miteinander zu reden, auch wenn es lange dauert. Immer wieder heißt es: Die Demokratie ist zu langsam. Es gibt zu viel Streit. Ich kann das nicht mehr hören usw. Implizit wird damit gesagt, der einsame Mann, die einsame Frau an der Spitze, das wäre doch ein gescheiteres System.

 

Aber immerhin ist es in unserem System ausgeschlossen, dass ein Staatschef gegen die Interessen seiner eigenen Bevölkerung agiert, dass Menschen für ihre Meinungsäußerung eingesperrt werden, dass man einen Krieg vom Zaun bricht, den die eigene Bevölkerung nicht will. Denn wäre das nicht der Fall, dann bräuchte es auch keine Zensur in Russland.

 

Der österreichisch-britische Philosoph, Sir Karl Karl Popper, sagte einmal: „You can choose whatever name you like for the two types of government. I personally call the type of government which can be removed without violence 'democracy' and the other 'tyranny'".

 

Und ja, Demokratie kann auch anstrengend sein, mühsam.

 

Sie braucht Zuhören und sich Auseinandersetzen. Sie braucht Kompromisse – ehrliche Kompromisse! Und genau deshalb sollten wir den Kompromiss nicht denunzieren. Gemeinsam Probleme zu lösen: Das ist die wahre Stärke der Demokratie. Und wenn der vermeintlich starke Mann einsame Entscheidungen trifft und es keine demokratischen Sicherheitsnetze gibt, kein Rule of Law, keine checks and balances, so kompliziert sie auch sein mögen, dann sehen wir jetzt, was passiert.

 

Ich sage es nochmals: Demokratie ist Stärke. Reden ist Stärke. Der Diskurs, das Miteinander-Reden, das macht uns stark. Und um miteinander sprechen zu können, müssen wir uns darüber einig sein, was die Wirklichkeit ist.

 

Vielen Dank.