Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich 65 Jahre Staatsvertrag

65 Jahre Staatsvertrag: »Jetzt wollen wir nach vorne blicken. Und ein Bild davon entwerfen, wie unser Leben aussehen soll«

Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

 

Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die hier leben.

Ich stehe hier vor dem Schloss Belvedere in Wien. Heute vor 65 Jahren hat sich hier ein ganz besonderes Ereignis zugetragen. Hier wurde der Staatsvertrag unterzeichnet, der „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“.

Hier im Park jubelten tausende Menschen den Außenministern zu, die dort oben am Balkon des Belvedere standen. Ohne den Staatsvertrag wäre das Österreich von heute, das Österreich, das wir so lieben, schlicht und einfach nicht denkbar.

 

Meine Damen und Herren!

Nur, wenn wir wissen, verstehen und akzeptieren, woher wir kommen, haben wir ein gemeinsames Fundament, auf das wir in Zukunft bauen können. Denn das alles ist Teil unserer Geschichte und damit Teil von uns. Viele von uns haben die Worte von Außenminister Leopold Figl noch im Ohr:

Österreich ist frei!

Das sagte er, nachdem er gemeinsam mit den Vertretern der vier Besatzungsmächte – der Sowjetunion, dem Vereinigten Königreich, den USA und Frankreich – den Staatsvertrag unterschrieben hatte. Und das war der Kern der Sache: Die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat und seiner Bürgerinnen und Bürger. Endlich!

Wir alle kennen die Vorgeschichte. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen am 12. März 1938 verschwand der Staat Österreich und wurde in das nationalsozialistische Deutsche Reich eingegliedert. Während Tausende auf dem Heldenplatz Hitler zujubelten, begannen schon die Einschüchterungen, die Verfolgungen, die Ermordungen. Es folgten Jahre der Schreckensherrschaft, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust.

Aber am 27. April 1945 wurde mit der „Unabhängigkeitserklärung“ durch Vertreter der SPÖ, ÖVP und KPÖ die Wiedergeburt Österreichs als demokratische Republik eingeläutet. Danach, nach dem erlösenden Kriegsende in Europa, war Österreich – und Wien – von 1945 bis 1955 in vier Besatzungszonen unterteilt. Das ist heute, vor allem für die jüngeren unter uns, nur mehr schwer vorstellbar. Aber die berühmten „Vier im Jeep“ gehörten zum Stadtbild von Wien.

Das zähe Ringen um den Abzug der Alliierten dauerte viele Jahre. Auf fast jeden Fortschritt in den Verhandlungen folgte ein Rückschlag. Mit Beharrlichkeit und Ausdauer gelang es schließlich, den Staatsvertrag auszuverhandeln.

Meine Damen und Herren!

Heute vor 65 Jahren war der ganze Park hier vor dem Belvedere voll mit begeisterten Menschen, dicht an dicht gedrängt. Österreich war frei! Und diese Freiheit war die Grundlage einer einzigartigen Erfolgsgeschichte namens Österreich:

Unser Land hat sich nach 1955 zu einem der sichersten und wohlhabendsten Länder der Welt entwickelt. Mit einer beeindruckenden Lebensqualität, hoher sozialer Sicherheit, einem attraktiven Wirtschaftsstandort, einer weltweit geschätzten Kulturszene. Ein wunderschönes, freies Land im Herzen Europas.

Mit diesem Leben in Freiheit, in einer liberalen Demokratie, müssen wir verantwortungsvoll umgehen.

Wir wissen, Demokratie bedeutet, einander zu respektieren, miteinander im Gespräch zu bleiben. Wir wissen, wir brauchen Kompromissbereitschaft; das ist eine Tugend, keine Schwäche. Wir wissen, politisches Handeln braucht die kritische Begleitung durch unabhängige Medien. Wir wissen, die Rechte von Minderheiten sind zu respektieren und nicht per Mehrheitsentscheid zu beschneiden.

Wir wissen, wir sind verantwortlich für das, was wir sagen und tun. Oder nicht tun.

Wir wollen einander helfen und unterstützen. Unsere Heimat Österreich ist es wert, gemeinsam Lösungen zu finden. Und schließlich: Der Friede ist eines der höchsten Güter, das wir bewahren wollen.

 

Meine Damen und Herren!

Diese letzte Einsicht hat Österreich dazu geführt, Teil des größten Friedensprojektes zu werden, das es in der Geschichte unseres Kontinents je gegeben hat: Der Europäischen Union. Die Teilhabe am Gemeinsamen Europa ist für Österreich eine Erfolgsgeschichte. Kulturell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Und ich bin überzeugt, dass der Neustart nach der Corona-Pandemie am besten zu lösen ist, indem wir unsere europäischen Stärken und Ressourcen gemeinsam, miteinander und füreinander nutzen.

 

„Österreich ist frei.“

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass wir gerade in diesen Tagen den Wert der Freiheit wieder eindringlich vor Augen geführt bekommen. Wir mussten soeben am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, in den Grundrechten massiv eingeschränkt zu sein. Von einem Tag auf den anderen. Es ist ganz schön viel verlangt worden von uns und unserer Demokratie.

Aber wir haben uns freiwillig und zeitlich beschränkt dazu bereit erklärt, weil wir die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft damit schützen wollten. Und das ist auch weitgehend gelungen. Jetzt wollen wir nach vorne blicken. Und ein Bild davon entwerfen, wie unser Leben aussehen soll.

 

Meine Damen und Herren!

Was hier im Schloss Belvedere vor 65 Jahren mit dem Staatsvertrag besiegelt wurde, war das Ergebnis eines kollektiven Kraftakts. Wir werden auch jetzt wieder einen kollektiven Kraftakt brauchen. Um wieder in Austausch miteinander zu treten. Um aus der coronabedingten hohen Arbeitslosigkeit herauszukommen, um die Wirtschaft wieder flott zu bekommen, um unser soziales, sportliches und kulturelles Leben wieder in Gang zu setzen. Über die Bezirks-, Landes- und Staatsgrenzen hinweg.

Wir müssen unsere Zukunft neu gestalten! Machen wir das gemeinsam, bauen wir gemeinsam – fair und nachhaltig - an unserer Heimat Österreich und Europa.

 

 

Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die hier leben!

Freiheit ist eines unserer höchsten Güter. Zugleich ist Freiheit filigran und verletzlich. Denken wir daran. Und denken wir in Dankbarkeit an die Menschen, die das Fundament errichtet haben, auf dem unsere Republik und wir heute stehen.

 

Ich wünsche Ihnen alles Gute.