Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich 25 Jahre EU-Beitritt Österreichs

»Gemeinsam den europäischen Wiederaufbau angehen«

Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen zum Europa-Tag 2020 via Social Media anlässlich der 25. Wiederkehr von Österreichs Beitritt zur Europäischen Union.

 

Rede zum Download_deutsch

Rede zum Download_englisch

 

Meine Damen und Herren an den Bildschirmen,

wir mögen im Augenblick zwar räumlich voneinander getrennt sein. Aber wir sind nach wie vor vereint im Glauben an unsere große, gemeinsame Europäische Idee.

Seit 25 Jahren ist die Republik Österreich aktiver Teil dieser Idee, als Mitglied der Union. Und ja: Es ist eine Erfolgsgeschichte. Eine Erfolgsgeschichte, die uns nicht einfach so passiert ist. Wir, die wir heute hier sind, wissen, dass die Europäische Union nicht allein ein Glücksfall ist, sondern das Resultat aus einer Fülle historischer Erfahrungen. Allen voran mit einem faschistischen Nationalismus, der, gepaart mit Antisemitismus und Rassismus, zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust geführt hat. Wir haben dieses gemeinsame Europa aus purer Einsicht gebaut, in Kooperation und gegenseitigem Respekt.

Das ist eine einzigartige Zivilisationsleistung.

 

Die Europäische Union hat auch Österreich nachweislich sehr, sehr viel gebracht: Kulturell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Wir sind in allen Bereichen enger zusammengerückt, und ich werde nicht müde zu sagen: Wenn wir die Europäische Union nicht hätten, dann müssten wir sie erfinden. Mehr denn je: Gerade jetzt.

 

Meine Damen und Herren!

Wir stehen unter dem Eindruck einer der größten Herausforderungen der Nachkriegsgeschichte. Die Pandemie zeigt uns dabei mehrere Dinge. Und alle sind relevant für den europäischen Gedanken.

Erstens: Wir sind enger miteinander verbunden, als uns das bewusst war. Alles, was der oder die Einzelne tut oder lässt, wirkt sich unmittelbar aus auf andere. Das gilt nicht nur innerhalb unserer Länder, es gilt auch innerhalb der Union. Wir haben das jetzt gesehen, als quer durch Europa Menschen zu Hause geblieben sind, um die verletzlichsten unserer Mitmenschen zu schützen. Das war verdammt hart. Aber wir haben es getan, weil es das Richtige war.

Und das hat uns zweitens gezeigt: Wie schmerzlich es ist, wenn man nicht frei ist. Diese Freiheit den Bürgerinnen und Bürgern zu garantieren, ist eine der Kernfunktionen der Europäischen Union. Möge sie uns lange, lange erhalten bleiben. Und drittens haben wir einmal mehr vor Augen geführt bekommen, dass die großen Herausforderungen sich mitnichten innerhalb nationaler Grenzen bewältigen lassen. Eine Pandemie kennt keine politischen Grenzen. Für sie sind, und diesmal leider im schlechten Sinne, alle Menschen gleich.

 

Meine Damen und Herren!

Leider hat es am Beginn der Krise mancherorts an europäischem Geist gemangelt. Das ist nicht zu bestreiten. Aber das Projekt, vor dem wir nun alle gemeinsam stehen, der Wiederaufbau, dieses Projekt lässt sich am besten lösen, indem wir unsere Stärken und Ressourcen gemeinsam, miteinander und füreinander nutzen.

Ja, ich weiß schon, es gibt Stimmen, die sagen: Keiner für alle, jeder für sich. Möge der Stärkste überleben. Mögen die Länder nur auf sich selbst achten, so gut sie eben können.

Aber alle, die so denken, möchte ich an eine einfache Wahrheit erinnern: Wir sind nur gemeinsam stark. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, in die Kleinstaaterei zurückzufallen.

Aus der schockierenden Erfahrung dieser Pandemie, folgt doch, dass wir noch stärker zusammenwachsen, einander noch mehr unterstützen und helfen müssen, als wir das bisher getan haben. Wenn wir in dieser Krise unsere größten Errungenschaften über Bord werfen, dann sind wir wie der Spaziergänger, der im Unwetter wütend seinen Regenschirm wegwirft, weil dieser ihn nicht vor nassen Füßen bewahren kann.

Wir brauchen und bedingen einander. Und wir müssen, wenn wir sie denn noch nicht haben, zu einer Europäischen Denkweise finden. Wenn Sie so wollen, zu einem Europäischen Mindset. Wir müssen lernen, als Italiener UND als Deutsche zu denken. Als Niederländer UND als Griechen. Als Österreicher UND als Kroaten. Wir brauchen ein Mindset des UND, nicht des ODER. Nicht du ODER ich, nein, du UND ich. Nur so kann ein Europäisches „Wir“ entstehen.

Ich freue mich, dass dieses „Wir“ mit Leben erfüllt wird. Nehmen Sie das erste Hilfspaket im Zusammenhang mit der Corona Krise, das die Europäische Union vor kurzem beschlossen hat. Der Umfang beträgt 540 Milliarden Euro, und das ist erst der Anfang. Ein zweites Paket, der „Recovery Fund“, wird gerade verhandelt. Wir brauchen da möglichst ehrgeizige Lösungen.

Denn auch als Länder sind wir enger miteinander verbunden, als uns das vielleicht bewusst war. Wenn VW oder BMW keine Autos produzieren, haben auch Österreichs Zulieferbetriebe keine Arbeit: und umgekehrt laufen aber auch keine Autos vom Band, wenn die transnationale Zulieferung nicht funktioniert.

 

Meine Damen und Herren!

Die Europäische Union bedeutet auch: Zusammenhalten, nicht entzweien. Aufeinander zugehen und nicht einander blockieren. Zuversichtlich sein und nicht aus Angst handeln. Mit Erfahrung, Besonnenheit und Ruhe agieren, gerade in unsicheren Zeiten.

Und global betrachtet, ist doch offensichtlich, dass wir nur gemeinsam zu so etwas wie einer Welt-Relevanz und Weltpolitikfähigkeit finden können. Jeder einzelne europäische Staat ist zu klein, um gegenüber den großen Mächten wie USA, China oder Russland seine Interessen wahrnehmen zu können.

Dazu braucht es unsere Gemeinschaft. Gerade jetzt.

 

Wir sind mit unserer einzigartigen Mischung aus Fähigkeiten, Temperamenten und Erfahrungen geradezu prädestiniert dazu, die großen Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit finden zu können. Wie kommen wir aus der hohen Arbeitslosigkeit heraus? Wie können wir die drohende soziale Krise gut bewältigen? Welche Art von Globalisierung wollen wir nach der Pandemie? Wie verhindern wir die schon spürbare Klimakrise, gegen die es keine Impfung geben wird? Auf diese Fragen brauchen wir jetzt gemeinsame Antworten, und das sind am besten europäische Antworten.

 

Meine Damen und Herren!

Die Europäische Union ist nicht perfekt. Sie ist weit davon entfernt. Sie wird uns nicht immer vor nassen Füßen bewahren. Aber lassen Sie uns wertschätzen, was wir an ihr haben. Das verlangt mehr Ernsthaftigkeit, als sie einfach zu verdammen. Es ist einfacher, einen Baum zu fällen, als ihn zum Wachsen zu bringen. Nein, die Europäische Union ist nicht perfekt. Aber wir können sie jeden Tag ein Stück besser machen. Es liegt an uns.

Weitsichtige österreichische Politikerinnen und Politiker haben unser Land vor 25 Jahren in die Union geführt. Arbeiten wir weiter an diesem größten Friedens-, Wirtschafts-, Lern-, Solidaritäts- und Hoffnungsprojekt, das es auf dieser Welt gibt.

Die Europäische Einigung ist die beste Idee, die wir je hatten.

 

Ich danke Ihnen.