Bundespräsident im Interview

»Ibiza hatte einen reinigenden Charakter«

Alexander Van der Bellen im Interview mit der Wochenzeitung FALTER, welche ihn zum »Mensch des Jahres 2019« kürte.

Falter: Herr Bundespräsident, während der Ibiza-Krise haben Sie politisches Neuland betreten. Wie haben Sie die Tage rund um das Ibiza-Video erlebt?

Alexander Van der Bellen: Am 15. Mai waren wir noch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi. Nach meiner Rückkehr hat jemand aus meinem Team bei einer Routinesitzung hier in der Hofburg gesagt, da sei irgendetwas im Schwange, aber man wisse nichts Genaueres.

Dann, an diesem denkwürdigen 17. Mai, war ich mit meiner Frau in einem Restaurant essen, als plötzlich mein Pressesprecher an unserem Tisch stand und sagte: "Komm sofort in die Hofburg, das musst du dir anschauen." Dort habe ich mit wachsendem Erstaunen dieses Video angesehen.

Was war Ihr erster Gedanke?

Van der Bellen: Das wird Folgen haben.

Und Ihr zweiter?

Van der Bellen: Dass diese Geschichte, wäre sie vor dem Fernsehzeitalter passiert, weniger Wirkung gehabt hätte. Ohne dieses Bilddokument wäre dieser Skandal dementiert worden. Hier hat sich in der Politik etwas verändert. Dass Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus das nicht wegdiskutieren können und zurücktreten müssen, war klar. Dass Ibiza die gesamte türkisblaue Regierung beendet, war zu diesem Zeitpunkt aber auch für mich nicht absehbar.

So ist es dann aber gekommen. Sie mussten als Bundespräsident eine Übergangsregierung zusammenstellen und für stabile Verhältnisse sorgen. Woran haben Sie sich orientiert?

Van der Bellen: Es gibt kein Handbuch für solche Fälle. Meine Richtschnur war und ist unsere ausgezeichnete Bundesverfassung. Dazu habe ich vorzügliche Verfassungsjuristen bei mir im Haus, die mich mit ihrem Rat unterstützt haben, und natürlich mein Team. Damals sind mehrere Sachen zum ersten Mal in der Zweiten Republik passiert: Es wurde zum ersten Mal ein Minister entlassen, nämlich der damalige FPÖ-Innenminister Herbert Kickl. Daraufhin sind auch der Verteidigungsminister, der Infrastrukturminister und die Sozialministerin zurückgetreten. Und es mussten neue Regierungsmitglieder angelobt werden. Zehn Tage später erzielte zum ersten Mal in der Zweiten Republik ein Misstrauensvotum gegen die gesamte Regierung eine Mehrheit im Parlament. Ich musste also einige Male neue Regierungen angeloben.

Die SPÖ hat Sie damals kritisiert, weil Sie den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz nach den Rücktritten der FPÖ-Minister eine Regierungsmannschaft zusammenstellen ließen, die eher nach ÖVP-Alleinregierung aussah und von der die SPÖ auch angekündigt hatte, sie im Parlament nicht zu bestätigen. War das ein Fehler?

Van der Bellen: Das sehe ich nicht so. Ich würde es heute nicht anders machen.

Einer Ihrer Schlüsselsätze nach dem Ibiza-Video war: "So sind wir nicht." Jetzt haben wir eine Casinos-Austria-Affäre, es wurden im Zuge der Ibiza-Aufklärung sehr unklare Vereinskonstruktionen im Parteienumfeld speziell der FPÖ entdeckt. Sind wir nicht doch ein bisschen so?

Van der Bellen: Ganz korrekt hätte ich sagen müssen: "So wollen wir nicht sein. So sind die meisten von uns nicht." Aber manchmal erlaube ich mir so eine poetische Zuspitzung.

"Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist", hat FPÖ-Chef Norbert Hofer im Präsidentschaftswahlkampf gedroht. Viele haben sich heuer gedacht: Was, wenn er und nicht Sie in der Hofburg gesessen wäre? Hatten Sie 2019 je das Gefühl: Ich habe zu viel Macht?

Van der Bellen: Nein. Nie.

Wie mächtig ist der Bundespräsident?

Van der Bellen: Die Verfassung gibt dem Präsidenten in einer solchen Krisensituation eine Reihe von Möglichkeiten. Wir feiern nächstes Jahr 100-Jahr-Verfassungsjubiläum . Vieles aus der Verfassung, das ich heuer nutzen durfte und musste, stammt aber nicht aus der Version des Jahres 1920, sondern aus der Novelle des Jahres 1929. Dieser Novelle ging ein langes Ringen zwischen Sozial-und Christdemokraten voraus. Letztere wollten durchaus autoritäre Elemente einbringen und haben das auch getan. Das Jahr 2019 hat gezeigt: Es braucht jemanden, der in solchen Krisensituationen Entscheidungen fällt, und dieser Jemand ist der Bundespräsident.

Immerhin bezweifelt dank Ibiza-Affäre heute niemand mehr, dass es den Bundespräsidenten braucht. Vor zehn Jahren war das noch anders.

Hat Ibiza nicht auch etwas Gutes? So viele Skandale sind in den letzten Monaten an die Öffentlichkeit gekommen, auch weil die Justiz ohne parteipolitischen Druck ermitteln kann.

Van der Bellen: Ibiza hat durchaus einen reinigenden Charakter. 2019 könnte als Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Transparenz und Nichtdiskriminierung einen größeren Stellenwert bekommen.

Braucht es nach diesem Jahr mehr Transparenz bei der Parteienfinanzierung?

Van der Bellen: Worum ging es im Ibiza-Video? Die Manipulation öffentlicher Ausschreibungen zugunsten von Firma X und zulasten von Firma Y. Die Untergrabung der Pressefreiheit, in dem Fall gerichtet gegen die Kronen Zeitung. Und um illegale Parteienfinanzierung über Vereine. Wenn dafür nun mehr Sensibilität herrscht, kann man das nur begrüßen.

Kommen wir zur aktuellen Politik. In Langenlois protestierten Schülerinnen und Schüler erfolgreich gegen die Abschiebung eines Mitschülers nach Afghanistan. Brauchte es für diese Fälle nicht eine generelle Lösung, etwa eine Amnestie?

Van der Bellen: Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich aus ökonomischen und menschlichen Gründen Handlungsbedarf sehe. Wenn ein Mensch, der nach Österreich geflüchtet ist, sich während des Asylverfahrens integriert, Arbeit sucht und findet, was spricht dagegen, ihn im Land zu behalten? Wir alle wissen, dass wir in absehbarer Zeit einen Pensionierungsboom haben werden und daher qualifizierte Zuwanderung brauchen. Also: Ja, sicher braucht es da eine generelle Lösung.

Wie soll diese Lösung aussehen?

Van der Bellen: Diese zu finden ist Aufgabe der künftigen Bundesregierung.

Stichwort Pressefreiheit: Unter Türkis-Blau ist Österreich im internationalen Pressefreiheitsranking abgerutscht, Message-Control und erschwerter Zugang zu Informationen sind daran schuld. Was tun Sie, damit es in der nächsten Regierung besser wird?

Van der Bellen: Auch die Willkür bei der Amtsverschwiegenheit geht zu weit. Das sage ich auch als ehemaliger Wissenschaftler, der Studien für Ministerien geschrieben hat, die nach Gutdünken publiziert wurden oder nicht. Das ist für die Öffentlichkeit ein Problem, aber auch für den Experten. Ich würde mich daher freuen, wenn beim Informationsfreiheitsgesetz etwas weitergeht.

Was wünschen Sie sich von der neuen Regierung europapolitisch?

Van der Bellen: Jede Regierung tut gut daran, sich daran zu erinnern: Gemeinsam ist besser als einsam. Das war der Slogan beim EU-Beitritt Österreichs, und er gilt heute genauso. Wir sind in der Weltpolitik nicht fähig, unsere gemeinsamen europäischen Interessen zu vertreten. Darüber grüble ich oft nach. Wirtschaftspolitisch ist die EU ein wichtiger Faktor. Aber außen-und sicherheitspolitisch gelingt uns das nicht.

Was ist die Lösung?

Van der Bellen: Subsidiarität ist gut und wichtig. Da lässt sich manches nach unten, auf die nationale Ebene, verlagern. Aber dann muss man im selben Atemzug auch sagen: Dann verlagern wir die großen Sachen auf die europäische Ebene. Dafür braucht es mehr Mehrheitsentscheidungen und eine Garantie, dass sich die unterlegene Minderheit auch daran hält. Es braucht Geduld, aber ich bin zuversichtlich, dass sich die EU in diese Richtung entwickeln wird.

Zuversicht brauchte es auch im Kampf gegen den Klimawandel. Aber gerade hat die Umweltkonferenz in Madrid gezeigt, dass sich nur sehr langsam sehr wenig tut.

Van der Bellen: Trotz des enttäuschenden Ausgangs der COP in Madrid müssen wir das große Bild sehen. Die Uno nimmt das Thema sehr ernst. Jetzt geht es darum, das Pariser Klimaabkommen mit Leben zu füllen.

Sie waren Wissenschaftler und sind Politiker, kennen also beide Welten. Die Wissenschaft warnt seit Jahrzehnten vor der Klimakrise. Wieso funktioniert der Transfer zwischen diesen beiden Systemen nicht?

Van der Bellen: Sie haben recht. Es hat zu lange gedauert, bis die Politik reagiert hat. Wir haben seit Jahrzehnten die Berichte des IPCC, des International Panel on Climate Change, des Weltklimarats der Vereinten Nationen. Diese Berichte waren in der Sache zwar richtig. Die Dynamik der Klimaveränderung wurde aber unterschätzt. Als ich mich vor mehr als 30 Jahren erstmals mit der Thematik beschäftigt habe, dachte man, das für das Weltklima so gefährliche Auftauen der sibirischen Permafrostböden, die Methangas speichern, sei ein Phänomen, das vielleicht irgendwann in einer weit entfernten Zukunft auftauchen könnte. Dieses Phänomen mussten wir aber schon im Sommer 2019 erstmals in Ansätzen erleben. Auch das Ansteigen der Meeresspiegel wird heute von der Wissenschaft viel dramatischer gesehen als noch vor kurzem.

Aber ändert das etwas?

Van der Bellen: Ja. Die Wissenschaftler finden sich plötzlich in der Rolle der öffentlichen Mahner wieder. Sie sind es gewöhnt, zu forschen, das zu Papier zu bringen, zu präsentieren, und dann forschen sie weiter. Aber es ist ursprünglich nicht ihr Job, in der Öffentlichkeit zu stehen und zu warnen. Das passiert jetzt zunehmend. Das Zweite ist die Jugendbewegung, die als Fridays for Future gestartet ist und mittlerweile ergänzt wurde durch Scientists für Future, Teachers for Future, Parents for Future und viele mehr. Da hat sich eine weltweite Massenbewegung entwickelt. Und das dritte Phänomen, das wir nicht unterschätzen sollten, ist eine zunehmende Nervosität im Finanzsektor. Die Kunden und Klienten der großen Investmentfonds werden risikobewusster und verlangen mehr Nachhaltigkeit. Das kann nur bedeuten, raus aus Öl, Kohle und Gas, denn wer weiß, wie tragfähig dieses Geschäft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein wird. Auch die Risiken ändern sich. Versicherungen sind nun häufiger mit Unwetterschäden, mit Überschwemmungen konfrontiert. Das macht wiederum die Zentralbanken und die Bankenaufsicht aufmerksam. Hier tut sich von verschiedenen Seiten gleichzeitig sehr viel.

Vor fünf Jahren war das noch undenkbar.

Ende September wurde gewählt. Jetzt ist Dezember, und wir warten auf eine Regierung. Gibt es aus Ihrer Sicht einen Zeitpunkt, bis wann es so weit sein muss?

Van der Bellen: Ich mache keinen Druck. Aber alle wissen, irgendwann wäre es ganz gut, wenn wir eine Regierung hätten.

Kanzlerin Brigitte Bierlein hat kürzlich gesagt, sollte die Regierungsbildung noch länger dauern, werde die Übergangsregierung von der ursprünglichen Linie, keine politischen Entscheidungen zu treffen, abgehen. Ist das mit Ihnen abgesprochen?

Van der Bellen: Natürlich. Die Übergangsregierung ist eine funktionierende, normale Regierung. Sie verfügt nur über keine automatische Mehrheit im Parlament. Das schließt nicht aus, dass man einzelne Vorschläge dem Parlament vorlegt und schaut, ob sich eine Mehrheit findet. Ich habe sicher nichts dagegen.

Was war in diesem turbulenten Jahr Ihre schwierigste Entscheidung?

Van der Bellen: Wenn ich ehrlich sein soll, dann wohl, dass es gelungen ist, binnen einer Woche eine Regierung zusammenzustellen. De facto hatten wir ein paar Tage mehr Zeit, weil es deutliche Hinweise gab, dass der Misstrauensantrag des Parlaments gegen die Regierung Kurz eine Mehrheit finden könnte. Also überlegt man sich im Vorhinein: Und was dann? Im Nachhinein schaut das alles so glatt und elegant aus. Aber interessant war schon, binnen kurzer Zeit Ministerinnen und Minister zu finden, die diese Aufgabe übernehmen.

Wie lief die Suche konkret ab?

Van der Bellen: Wir hatten drei Gesichtspunkte besonders im Blick: Die Persönlichkeiten sollten hinreichend fürs Amt qualifiziert sein, es sollte schwer sein, im Nationalrat gegen sie zu stimmen, und wir wollten eine Regierung mit 50 Prozent Frauenanteil. Und Österreich bekam erstmals eine Kanzlerin. Bisweilen war die Ministersuche -sagen wir es höflich -sehr herausfordernd.

Haben Sie auch erlebt, dass Frauen eher zögern, wenn sie so ein Angebot erhalten?

Van der Bellen: Tendenziell ist es schon so, dass ein Mann, der gefragt wird, sich aufplustert und sagt: War aber Zeit, dass ihr mich anruft! Und von Frauen hört man: Meinen Sie wirklich? Das muss ich mir überlegen

Soll die 50-Prozent-Frauenquote in der nächsten Regierung bleiben?

Van der Bellen: Das wäre sehr schön. Aber garantieren kann ich es leider nicht.

Wie intensiv werden Sie von Sebastian Kurz und Werner Kogler derzeit über die Verhandlungen informiert?

Van der Bellen: Sehr regelmäßig von beiden Seiten. Teilweise treffen wir uns in der Hofburg, teilweise telefonieren wir.

Im Jahr 2003 haben Sie als damaliger Grünen-Parteichef mit Wolfgang Schüssel von der ÖVP eine schwarz-grüne Koalition verhandelt und sind gescheitert. Warum soll es jetzt klappen?

Van der Bellen: Die Frage liegt nahe. Inhaltlich gibt es verschiedene Hürden zu überwinden. Aber beide Parteien haben sich verändert. Die Verhandler heute wissen, an welchen Kleinigkeiten oder größeren Brocken es damals gescheitert ist. Dazu kommen neue inhaltliche Herausforderungen.

Klimaschutz ist ein Jahrhundertthema geworden.

Zum Jahresende: Die Klimaaktivistin Greta Thunberg wurde vom Time-Magazine zur Persönlichkeit des Jahres gewählt. Ist sie auch für Sie der Mensch des Jahres?

Van der Bellen: Ich finde es toll, was Greta Thunberg geleistet hat. Daher ist sie zu Recht Person des Jahres im Time-Magazine. Meine Menschen des Jahres sind all jene, die ehrenamtlich, ohne Bezahlung, andere Menschen pflegen und sich um sie kümmern. Fast in jeder Familie gibt es Pflegebedarf, sei es ein älterer Mensch oder ein Kind, die Hilfe benötigen. Und fast immer sind es Frauen, die helfen. Dieses Engagement möchte ich gerne sichtbar machen. Und diesen Menschen Danke sagen.

Das wäre doch ein gutes Langzeitprojekt für einen Bundespräsidenten. 2022 ist die nächste Wahl. Treten Sie noch einmal an?

Van der Bellen: Ist das ein Überrumpelungsversuch? Hätten Sie es gern?

Eine 50-Prozent-Frauenquote in der nächsten Regierung? Das wäre sehr schön. Aber garantieren kann ich es leider nicht.

INTERVIEW: NINA HORACZEK und BARBARA TÓTH
"Falter" Nr. 51-52/2019, 18.12.2019 Seite 12-14