»Dass wir Europäerinnen und Europäer sind, ist ein Glück, das wir uns im Nachhinein verdienen müssen«

Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich der Veranstaltung »Rede zu Europa«, im Neuen Schloss, Stuttgart am 29.11. 2018

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Winfried,
Herzlichen Dank für die Einladung, hier sprechen zu dürfen.

Meine Damen und Herren!

Ich stehe hier als glücklicher Mensch. Denn wie die meisten von Ihnen hatte ich das Glück in der Geburtsortlotterie einen Haupttreffer gelandet zu haben.

Ich bin auf diesem schönen Kontinent Europa geboren, zu einem Zeitpunkt als der Zweite Weltkrieg dem Ende zuging.

Das habe ich mir nicht ausgesucht. Und das hat sich niemand hier im Raum ausgesucht.

Im Übrigen auch keiner, der den Ort der Geburt als Grund nimmt, sich über andere erhaben zu fühlen.

Vor wenigen Tagen, am 11. November war ich mit meiner Frau bei den Feierlichkeiten unter dem Arc de Triomphe in Paris anlässlich „100 Jahre Ende des Ersten Weltkriegs“. Es waren etwa siebzig, achtzig Staatsoberhäupter aus den verschiedenen Regionen der Welt dort. Das ist nicht das Besondere. Das Besondere ist, Sieger und Besiegte waren dort. Es waren alle gemeinsam dort, um das Ende des Krieges zu feiern und seiner zu gedenken.

Winfried Kretschmann hat zuvor die vergeblichen Bemühungen um ein gemeinsames Europa nach dem Ersten Weltkrieg skizziert. Das war damals eine tragische Geschichte.

Heute jedenfalls leben wir in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Alle, jedenfalls aber die jüngeren Generationen haben einen Haupttreffer in der Geburtsortlotterie gezogen.

Es gibt aber nun wieder Parteien, Gruppierungen und Personen, die finden, dass die Europäische Union aus unterschiedlichen Gründen obsolet wäre.

Nationale Souveränität sollte dem europäischen Gedanken vorgehen, meinen diese Personen. Diesen Standpunkt kann man schon vertreten, wenn man nicht vergisst, hinzuzufügen, dass der europäische Zwergstaat sehr allein ist, wenn er allein ist.

Und im Weltmaßstab sind alle europäischen Staaten - es tut mir leid, das hier aussprechen zu müssen, aber im Weltmaßstab sind alle europäischen Staaten klein, sehr klein. Wenn man also dieses Ziel verfolgt, sollte man auch dazusagen, dass alle europäischen Staaten als Zwergstaaten Spielball mächtigerer Staaten werden können. Wenn man das akzeptiert, kann man für den Austritt aus der Union werben. Man muss dann auch dazusagen, dass manche Nachbarn mit dieser Entwicklung sehr zufrieden wären. Wir haben nicht nur Nachbarn, die Freunde der Europäischen Union sind. Selbstverständlich ist es für jeden größeren Nachbarn – sei es im Osten oder über dem Atlantik – einfacher mit jedem Staat einzeln zu verhandeln, statt mit der geballten Macht eines geeinten Europa und nebenbei gesagt 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, Konsumentinnen und Konsumenten.

Es ist kein Geheimnis: Ich bin nicht dieser Ansicht.

Wir brauchen die Unteilbarkeit der Union, Wir brauchen die Handlungsfähigkeit, und wir brauchen die europäische Einheit. Oder in drei Worten: „Unite or decline“, sagte ihr Außenminister Heiko Maas vor zwei Tagen anlässlich einer Veranstaltung. Unite or decline, I couldn´t agree more.

Meine Damen und Herren,

die Rhetorik des Ausschließens, die momentan en vouge ist, sagt:
Man müsse sich entscheiden: Zwischen der Liebe zu seinem Heimatland einerseits und der Liebe zu Europa andererseits.
Oder zwischen der Hilfsbedürftigkeit der eigenen Landsleute und jener anderer Menschen. Oder zwischen dem Eigennutz und dem Nutzen anderer.
Dieses „Entweder/Oder“, glaube ich, führt in die Irre. Wir können unser Heimatland lieben UND die europäische Idee. Wir können unseren Landsleuten helfen UND Migranten oder ausländischen Mitbürgern. Wir können uns selber nützen UND zum Wohle aller betragen.

Das alles schließt einander nicht aus, im Gegenteil, meine ich:
Es bedingt einander.
Wir bedingen einander.
Wir brauchen einander.

Europa ist ein Kontinent des „UND“, und nicht des „Entweder/Oder“. Das macht uns auf dieser Erde einzigartig.

 

Das ist vielleicht einer der Gründe, warum die Europäische Union noch immer Strahlkraft hat nach außen. Die Probleme, die wir haben, strahlen nach innen aus:

Wenn Sie auf die Länder im Südosten von Europa schauen, auf dem sogenannten Westbalkan.

In einer Zeit, in der internationale Beziehungen wieder konfrontativer werden, hat unsere Union eine globale Schlüsselrolle.

Sie muss für Dialog, internationale Zusammenarbeit und Multilateralismus, sie muss für Einhaltung internationaler Verträge und Menschenrechte eintreten. Wenn das wir, die Europäische Union, nicht tun? Wer tut das dann? Wer?

Meine Damen und Herren!

Sie wissen, dass unser Europa mit einer Vielzahl von drängenden Fragen und Herausforderungen konfrontiert ist.

Dem Brexit - eine tragische Fehlentscheidung unserer britischen Freundinnen und Freund. Der Stabilität der Regionen in unmittelbarer Nachbarschaft -Stichwort:Balkan), der Klimakrise, der Migration, der Digitalisierung.

Und viele dieser Fragen erfordern eine Antwort. Und zwar eine rasche Antwort.

Ich bin überzeugt, dass diese globalen Herausforderungen nur multilateral  gelöst werden können, also gemeinsam.

Bei der sogennanten Klimakrise ist das offenkundig: Niemand kann sie alleine lösen Nicht Deutschland, nicht Österreich und auch sonst keiner Wir haben uns in der Hofburg ein bisschen überlegt, können wir etwas beitragen? Einen Rückenwind geben für die kommende Weltklimakonferenz in Kattowitz, in Polen. Und ich habe dann eine Initiative gestartet und habe Staatsoberhäupter und Regierungschef der Europäischen Union und auch von außerhalb einzuladen, die - wie soll ich sagen - ein Bekenntnis ablegen. Die Lösung der Klimakrise ist notwendig und sie ist vor allem dringlich.

Und ich freue mich, sagen zu können, dass mittlerweile 18 Präsidenten- und Ministerpräsidenten  den Appell unterzeichnet haben. Vorgestern auch Präsident Macron. Ich habe nicht damit gerechnet, weil Frankreich solche Initiativen in der Regel lieber alleine macht. Aber das ist ein schönes Zeichen, dass Frankreich auch dabei ist. Und einer der ersten Unterzeichner dieser Initiative war Bundespräsident Steinmeier.

Die politische Einigung Europas, also unserer Union ist nicht etwas Abbgeschlossenes, es ist ein fortlaufendes Projekt, work in progress.Es erfordert den ständigen Dialog, Debatte und Engagement der Mitgliedsstaaten. Aber nicht nur, sondern auch der Bürgerinnen und Bürger insgesamt. Nationale Souveränität á la 19. Jahrhundert ist etwas, was ich für eine Illusion halte Warum?
 

Europa ist zu viel klein, um in Kleinstaaterei zurück zu verfallen.

 

Freiwillige Verzwergung nach dem Modell Boris Johnson/UKIP/Le Pen ist das letzte was wir brauchen.

Es muss uns klar sein, dass wir nur gemeinsam, in transnationalem Verband mit allen anderen Mitgliedsstaaten, unsere Interessen und Prioritäten auf der internationalen Ebene mit Nachdruck und Gewicht vertreten können. Wem auch immer gegenüber. Das können von Fall zu Fall die Vereinigten Staaten von Amerika sein. Es kann Russland sein, es kann auch China sein.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in diesem Zusammenhang von der „Weltpolitikfähigkeit“ der Union gesprochen. Ein interessantes Stichwort, finde ich, die „Weltpolitikfähigkeit“.

Ich möchte mit Ihnen ein kleines Gedankenexperiment machen. Es dauert nicht lange.

Übertragen wir einmal die politische Struktur der Europäischen Union auf Deutschland. Und schauen wir, wie das Ergebnis ausschaut. Und mit politischer Struktur meine ich nicht tausende Seiten von Verträgen, sondern ich meine eigentlich nur, drei Institutionen: Das Parlament, die Kommission und den Rat. Das heißt also, es gibt dann den Bundestag. Da ändert sich nicht viel. Aber es gibt dann zwei Regierungen in Deutschland, die deutsche Kommission und den deutschen Rat. Wenn wir die jetzige Struktur der Europäischen Union übertragen.

Die deutsche Kommission hätte 16 Mitglieder. Es gibt ja 16 Bundesländer und jedes Bundesland hat seine Kommissarin, seinen Kommissar für eine Legislaturperiode. Das kann einmal eine gute Politikerin sein, manchmal auch einer, den man weghaben will. Hat es ja alles schon gegeben. Jedenfalls hat die Kommission Initiativrecht usw. Eine sehr wichtige Institution. Im Bundestag, habe ich schon gesagt, ändert sich nicht wahnsinnig viel. Konzentrieren wir uns auf die Regierung: Die deutsche Kommission und den deutschen Rat. Wer sitzt im deutschen Rat, als quasi Oberregierung der deutschen Kommission? Wenn wir die Struktur übertragen? Die Ministerpräsidenten. So weit so gut. Die Ministerpräsidenten treffen sich regelmäßig, es gibt dann anschließend ein Communiqué.

Ich bin ein Ökonom gewesen bevor ich in die Politik gegangen bin. Und ich glaube an die Wirkungen von Anreizen. Welchen Anreizen sind die Mitglieder des deutschen Rates aller Ministerpräsidenten ausgesetzt?

Mit Anreizen meine ich, wo überlebt die Ministerpräsidentin, der Ministerpräsident politisch? Na, in Baden-Württemberg oder in Bremen oder in Hamburg, je nachdem. Wenn also der Interessenkonflikt aufkommt zwischen den Interessen Gesamtdeutschlands und jenem des eigenen Bundeslandes und vielleicht noch Wahlen bevorstehen – das haben wir ja alle schon erlebt, was dann passiert: Dann ist das Hemd näher als der Roch. Na sicher.

Vorausgesetzt, vielleicht habe ich das nicht deutlich genug gesagt, alle diese Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sind extrem fähige Leute, extrem intelligente Leute und sie halten das Gesamtdeutsche Interesse durchaus im Fokus. Es ist nur so: Wenn es ums eigene politische Überleben geht, muss ich zuerst an mein eigenes Bundesland denken.

Wenn Sie diese Struktur noch mit dem Prinzip der Einstimmigkeit verbinden, dann kriegen Sie ein Rezept für Stillstand, das sich gewaschen hat.  Das ist aber die Struktur der Europäischen Union. Die hat nicht nur 16 Mitglieder, sondern 28. Das ändert am Problem gar nichts. Es verschlimmert es nur noch.

Ich erzähle das so lange, denn überraschend ist für mich nicht, dass in der Europäischen Union manchmal wenig weitergeht, ewig dauert. Das ist nicht überraschend mit dieser Struktur. Überraschend ist vielmehr, dass die Europäische Union überhaupt existiert. Das ist echt überraschend. Es muss also etwas geben, hinreichend viele Europäerinnen und Europäer, die seinerzeit und jetzt, das Europäische hochhalten.

Es gibt einen Artikel eines deutschen Journalisten aus dem Jahre 1933. Er schrieb:

„Wir hatten eine Demokratie in Deutschland, aber leider nicht genügend viele Demokraten“.

Und so besteht das Risiko, dass wir eines Tages aufwachen und sagen: „Wir hatten zwar ein vereintes Europa, aber leider nicht genügend Europäer.“

Wenn gesagt wird, auch von mir, wir müssen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Europäische Union stärken, die Handlungsfähigkeit stärken. Tun wir das auch?
Sorgen wir dafür, dass die Union handlungsfähig ist? Ministerpräsident Kretschmann hat es vorhin im Zusammenhang mit der Handelspolitik und der Außenpolitik auf einen Nenner gebracht: Wenn ich von einem Bäcker erwarte, dass er Brot liefert, aber ich gebe ihm weder Mehl, noch Wasser oder einen Backofen. Dann wird er nicht liefern.

Abschließend, meine Damen und Herren, ein persönliches Bekenntnis:

Europa ist auch eine Wertegemeinschaft.

Grund- und Freiheitsrechte, Menschen- und Minderheitenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, der Rechtsstaat und die liberale Demokratie sind unveräußerliche Güter, die wir verteidigen müssen.

Diese Werte werden in der Regel nicht durch einen einmaligen Handstreich gefährdet, der sich offen und für alle erkennbar gegen sie richtet.

Sie sind am meisten in Gefahr durch die Salamitaktik (und das ist keine Anspielung auf Ungarn), in der schrittweise, scheibchenweise, Kleinigkeiten abgezwackt werden, die kaum auffallen. Bis am Ende nichts mehr da ist und es zu spät ist.

Das ist eine ganz heikle Frage. Wie erkennt man die Zeichen an der Wand? Denn die Geschichte wiederholt sich nicht, im Gegensatz zu dem was Marx und Engels gesagt haben. Sie wiederholt sich jedenfalls nicht eins zu eins, deswegen ist es nicht leicht, die Zeichen zu dechiffrieren.

Meine Damen und Herren!

 

Ich bin ein glücklicher Mensch, ich habe den Haupttreffer in der Geburtslotterie gezogen. Ich bin als freier Mensch auf diesem schönen Kontinent geboren worden. Das ist nicht mein Verdienst, das haben unsere Vorfahren für uns erstritten, erkämpft und mit mühsamen Verhandlungen erreicht.

Dass wir Europäerinnen und Europäer sind, ist ein Glück, das wir uns im Nachhinein verdienen müssen.

Auch deshalb ist es unsere Pflicht und unsere Verantwortung, unsere zentralen europäischen Werte, wie sie etwa in der französischen Revolution 1789 erstmals formuliert wurden, zu bewahren und zu verteidigen.

Nämlich: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Heute würden wir wohl sagen: Solidarität.

Das ist eine schöne Vision.

Und der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist das schönste politische „Gedicht“, das ich je gelesen habe. Lesen Sie es nach!
Vielen Dank!

Hier können Sie die Rede als pdf downloaden.

29.11.2018: Besuch in Baden-Württemberg
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Fotos: Carina Karlovits/HBF