»Europa steht am Scheideweg«

»Eine Zerstörung der Union würde die einzelnen Nationalstaaten wie ein Schiff ohne Steuer auf hoher See Wind und Wellen aussetzen und letztlich neue Armut in Europa bedeuten«, warnt der Bundespräsident im APA-Interview.

 
 

Bundespräsident Alexander Van der Bellen warnt eindringlich vor einem Rückfall in Nationalismen: "Europa steht an einem Scheideweg", erklärte er der APA. Angesichts einer "alles andere" als einfachen "weltpolitischen Situation" drohe der EU und Österreich ein Bedeutungsverlust. Mehr Sorgen als das Thema Migration bereiten dem Ex-Grünen-Chef "die Klimakrise und der drohende Zoll- und Handelskrieg".

Europa müsse sich entscheiden: "Wollen wir weitermachen wie bisher und zusehen, wie die EU und damit Österreich auf der Weltbühne an Bedeutung verlieren?", ergänzte Alexander Van der Bellen in einem aus Zeitgründen per E-Mail geführten Interview mit der Austria Presse Agentur. "Oder wollen wir ein starkes Europa, das in der Welt gehört wird, weil es mit einer Stimme spricht?" Er selbst wolle ein starkes, vereintes Europa, betonte der Bundespräsident. "Ich hoffe, dass der Brexit uns allen eine ausreichende Warnung ist."

Bundeskanzler Sebastian Kurz habe "ein klares Bekenntnis zur Zusammenarbeit in Europa abgegeben" und werde "den im Regierungsprogramm festgeschriebenen pro-europäischen Kurs sicherlich ernst nehmen", zeigte sich der Bundespräsident überzeugt. Auch Kurz kenne die weltpolitische Situation und wisse, dass Österreich seine Interessen allein global nicht durchsetzen könne. An der EU-Mitgliedschaft hingen in Österreich hunderttausende Arbeitsplätze. "Eine Zerstörung der Union würde die einzelnen Nationalstaaten wie ein Schiff ohne Steuer auf hoher See Wind und Wellen aussetzen und letztlich neue Armut in Europa bedeuten", warnte Van der Bellen.

Der Präsident verwies auf eine Umfrage der österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, wonach 73 Prozent der Österreicher für den Verbleib in der EU seien. Und nur 17 Prozent plädierten für einen Austritt. Dies seien weniger Bürger als die FPÖ Wähler habe. Mit der Mitgliedschaft der FPÖ in der "Le Pen-Fraktion", also der EU-kritischen Fraktion Europa der Nationen und Freiheit (ENF) im EU-Parlament, habe er "keine Freude", betonte der ehemalige Wirtschaftsprofessor. "Sie widerspricht dem im Regierungsprogramm verankerten pro-europäischen Kurs der Bundesregierung."

Angesichts der derzeit "immensen" Herausforderungen für den österreichischen EU-Ratsvorsitz wie dem Beginn eines möglichen Handelskriegs der USA mit der EU und China, der Klimakrise und der Migrationsfrage forderte Alexander Van der Bellen mehr Zusammenhalt in Europa. "In all diesen Fragen muss die EU zusammenstehen und gemeinsam vorgehen. Das ist beim Handelskrieg erfreulicherweise der Fall, bei der Klimakrise tun wir alle zu wenig und bei der Migration besteht die Gefahr eines Dominoeffektes durch nationale Alleingänge, das würde auch Österreich schaden." Die Verhandlungen über den Brexit und die mehrjährige Finanzplanung der EU seien schwierig, "aber daran wird die EU nicht zerbrechen".

Beim Thema Migration ist Van der Bellen "dafür, dass man der Bevölkerung reinen Wein einschenkt. Ohne eine gemeinsame EU-Migrations- und Asylpolitik und Bekämpfung der Fluchtursachen wird es nicht gehen", erklärte er. "Wenn wir irreguläre Migration verhindern wollen, müssen wir legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen." Mit einem europäischen Einwanderungsrecht und einem gemeinsamen Asylsystem könnten Verfolgte geschützt und zugleich die Zuwanderung kontrolliert werden. "Darauf müssen wir hinarbeiten."

Alexander Van der Bellen sieht in der Migration allerdings nicht das größte Problem Europas: "Momentan machen mir jedenfalls die Klimakrise und der drohende Zoll- und Handelskrieg mit den USA deutlich mehr Sorgen", sagte der Bundespräsident. Er verwies auch darauf, dass die Zahl der Schutzsuchenden deutlich zurückgegangen und die Lage "unter Kontrolle" sei. Es sei aber legitim und sinnvoll, sich auf mögliche künftige Entwicklungen vorzubereiten.

Die Entwicklung seit der Ankündigung der nationalen Maßnahmen der deutschen Bundesregierung zeige laut Alexander Van der Bellen, dass es "notwendiger denn je" eine gemeinsame, abgestimmte Vorgangsweise der EU-Staaten geben müsse. "Sonst droht ein Dominoeffekt, der das Gegenteil von europäischer Solidarität ist und letztlich allen schadet". Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sei jedenfalls "unzweifelhaft eine Europäerin", meinte er. "Und es hat mir gefallen, wie sie jüngst betont hat, dass die Seele Europas die Humanität ist."

Gefragt nach dem Motto der Ratspräsidentschaft plädierte der Bundespräsident auf eine breitere Definition als das Fokussieren auf die Sicherheit. "Wenn mit 'Europa, das schützt' gemeint ist, dass die EU uns vor der Klimakrise schützt, vor Armut schützt, vor Kriegen schützt und Menschen vor Verfolgung schützt und die Außengrenze kontrolliert, dann halte ich dieses Motto für passend."

Bei der Indexierung der Familienbeihilfe sieht Alexander Van der Bellen "europarechtliche Schwierigkeiten auf Österreich zukommen". Es gebe dazu eindeutige Urteile des Europäischen Gerichtshofes und ein Rechtsgutachten des Deutschen Bundestages. "Offen ist auch, ob die tausenden Pflegekräfte, die in Österreich unsere Angehörigen pflegen und die Kinderbeihilfe als Teil ihres Einkommens sehen, dann weiter hier arbeiten wollen. Und ohne deren Hilfe wird es für viele unserer Familien, was die Pflege Ihrer Angehörigen betrifft, sehr schwierig werden", warnte der Bundespräsident.

Quelle: APA/PRK