Rede anlässlich der 60-Jahr-Feier des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes

60 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

Alexander Van der Bellen würdigt das DÖW als »wichtige Säule im Kampf um historische, schonungslose Aufarbeitung unserer dunkelsten Geschichte«.

Geschätzte Damen und Herren!

 

Wenn ich mein Büro verlasse, stehe ich unmittelbar vor einem Denkmal, das den Opfern der NS-Justiz gewidmet ist. Es wurde am 24. Oktober 2014 seiner Bestimmung übergeben.  Das war ein bewegender Moment, den ich persönlich auch miterleben durfte und den ich auch als Erfolg empfand.

Als Erfolg gegenüber jenen, die auch 69 Jahre nach  dem Ende der Nazi-Herrschaft noch nicht sehen konnten oder wollten, was es bedeutet hat, sich gegen dieses Mörder-Regime zu stellen.

2005 noch war im österreichischen Parlament von Deserteuren als „Kameradenmördern“ die Rede – 2005, das muss man sich vorstellen. Insofern ist es geradezu erstaunlich, dass das Dokumentationsarchiv  des österreichischen Widerstandes  bereits 1963 gegründet wurde  und seine Arbeit aufnehmen konnte.

Und ich möchte all jenen, die seither an dieser wichtigen Institutionen mitgewirkt haben, die ihre Aufgaben mehr und mehr erweitert haben, die zur Sichtbarkeit und zur Relevanz dieser Stelle beigetragen haben, persönlich wie auch im Namen der Republik Österreich danken.

Sie sind eine wichtige Säule im Kampf um historische, schonungslose Aufarbeitung unserer dunkelsten Geschichte, sie sind aber auch eine wichtige Säuleim Kampf gegen totalitäre und illiberale Tendenzenin der Gegenwart.

Ich erinnere nur an das „Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus“, das für viele Menschen zu einem Kompass wurde, was demokratisch noch verkraftbar ist – und wo diese Grenze überschritten wurde und wird.

Diese klare Grenzziehung war nicht allen recht und war auch neu in einem Land, dessen Umgang mit der eigenen Vergangenheithäufig als „schlampig“ bezeichnet wurde.Jetzt, wo die so genannte „Täter-Generation“ nicht mehr unter uns ist, wo auch die Überlebenden des Nazi-Terrors weniger und weniger werden, jetzt sollte man eigentlich meinen, dass die Lektion gelernt wurde und es einen eindeutigen Konsens durch alle gesellschaftlichen Schichten gibt, dass autoritäre Tendenzen, dass Rassismus und Antisemitismusnichts in unserem Land verloren haben.

Sollte man.

Aber der Trend geht in eine andere Richtung. Wir befinden uns heute in einer Situation, wie wir sie uns vor wenigen Jahrennoch nicht vorstellen wollten.Besonders der zunehmende Antisemitismus lässt einen im Grunde genommen fassungslos zurück.

Wie kann es sein, dass es in einem Land, das den Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden mitzuverantworten hat, wie kann es genau hier und im 21. Jahrhundert geschehen, dass – je nach Ausprägung – beinahe ein Drittel der Bevölkerung mit antisemitischen Stereotypen kein Problem hat? Das ist nicht akzeptabel.

Meine Damen und Herren!

Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes ist ein unverzichtbares Element im Netzwerk gegen die Feinde der offenen Gesellschaft. Und es gibt ein klares Bekenntnis seitens der Politik, die Arbeit dieser Einrichtung weiterhin zu unterstützen. Es darf nämlich gerade jetzt nicht sein, dass wir einen bequemen Schlussstrich ziehen. Wir müssen weiterhin und verstärkt unsere liberale Demokratie pflegen und stärken – gerade wenn das Umfeld schwieriger geworden ist.

 

Geschätzte Ehren- und Festgäste!

Wenn ich aus meinem Büro gehe, dann stehe ich wie beschrieben direkt vor dem Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz. Auf seiner obersten Stufe ist ein Text eingelassen, ein Gedicht.

In Form des Buchstabens X ist dort 32 Mal das Wort „all“, „Alle“ zu lesen. Dort, wo sich die beiden Linien kreuzen, steht das Wort „alone“, „alleine“ geschrieben.

Dieses Gedicht erinnert uns daran, dass Zivilcourage auch bedeuten kann, sich gegen eine Mehrheit zu stellen.

Sei das schlichte Ignoranz, oder Gleichgültigkeit, Wegschauen, stilles Hinnehmen, dem der Einzelne, die Einzelne mit Haltung begegnet.

Mit dem also, was einmal als „der Wille zum aufrechten Gang“ bezeichnet wurde. Und es ist daher auch kein Zufall, dass an diesem Ort so häufig Demonstrationen stattfinden, wie an keinem anderen Ort dieser Republik.

Und man mag mit der einen oder anderen Forderung dieser Demos nicht einverstanden sein, eine andere wiederum durchaus berechtigt finden oder gar mit ihr sympathisieren – das Wesentliche ist, dass wir im Rahmen unserer Rechtsstaatlichkeit dafür Sorge tragen, dass freie Meinungsäußerung möglich ist.

Für Jeden und Jede.

Ich gratuliere dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands zu seinem runden Geburtstag und freue mich auf den Festvortrag, der uns diese bedeutsame Einrichtung noch näherbringen wird.

60 Jahre DÖW 10. Jänner 2024
60 Jahre DÖW 10. Jänner 2024

Fotos: Peter Lechner/HBF