Alexander Van der Bellen steht an einem Rednerpult

»Wir alle sind aufgefordert, wachsam und sensibel zu sein«

Die Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich des Gedenkens an den 12. März 1938.

Das Ende Österreichs – 1938 - kam nicht überraschend.

Als in der Nacht vom 11. auf den 12. März deutsche Truppen die Grenze zu Österreich überschritten, wurde für die einen eine Hoffnung erfüllt, für die anderen eine bange Befürchtung Gewissheit.

Es war der Schlussstrich unter ein verzweifeltes, unbeholfenes und teilweise halbherziges Ringen, die Eigenständigkeit Österreichs zu erhalten.

Mit diesem Schlussstrich öffnete sich gleichzeitig das Tor zu Enteignung, Verschleppung, Gewaltexzessen, Folter, Krieg und industriellem Massenmord.

Das dunkelste Kapitel in der Geschichte unseres Landes wurde aufgeschlagen.

 

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Vielen Dank, dass Sie heute in die Wiener Hofburg gekommen sind, um gemeinsam der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich zu gedenken.

Wir tun dies im Bewusstsein, dass auch 80 Jahre nach den damaligen Ereignissen unsere ganze Aufmerksamkeit gefordert ist, wenn wir begreifen wollen, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte.

Wie die niedrigsten Gefühle und Regungen von den Herzen der Menschen Besitz ergreifen konnten; wie Nachbarn zu „Volksfeinden“, wie Väter zu Massenmördern werden; wie Menschen gleichzeitig Mozart hören und den Gashahn aufdrehen konnten.

 

Die deutsche Wehrmacht kam über Nacht.

Nicht über Nacht kam die Verachtung für die Demokratie, kamen Militarismus, Intoleranz und Gewalt.

Sie hatten sich schleichend in Österreich eingenistet.

Es war eine kontinuierliche Aushöhlung von Humanismus und Rechtsstaatlichkeit; ein politisches und gesellschaftliches Multiorganversagen, ausgelöst durch die Krankheiten:

steigende politische Polarisierung,

weltanschauliche Unversöhnlichkeit,

Rassismus,

und Antisemitismus.

Und genau deswegen, sehr geehrte Damen und Herren, weil der 12. März 1938 eine Vorgeschichte hat, und letztlich den Kulminationspunkt einer katastrophalen Entwicklung darstellt, genau deswegen müssen wir auch heute noch genau hinsehen wie es so weit kommen konnte und entschlossen unsere Lehren daraus ziehen.

 

Die Lehre, dass auch Demokratien anfällig für Populismus und Demagogie sind.

Die Lehre, dass Diskriminierung ein erster Schritt zu Entmenschlichung ist.

Die Lehre, dass Rassismus und Antisemitismus nicht einfach verschwinden, sondern auch heute im Kleinen wie im Großen weiter existieren.

Die Lehre schließlich, dass es wichtig ist, rechtzeitig die Stimme zu erheben - klar und unmissverständlich - und gegen jede menschenverachtende Ideologie aufzustehen.

Und daher sind wir Alle gefordert, Sie und ich, unsere Sinne zu schärfen, und zu versuchen wachsam und sensibel die allfälligen Zeichen an der Wand zu erkennen.

 

 

Meine Damen und Herren!

Österreich hat Mitverantwortung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus.

Österreicherinnen und Österreicher waren nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen und Täter, oft in führenden Positionen.

Österreich hat sich – mitunter sehr spät – zu dieser Verantwortung bekannt und wird dies auch in Zukunft tun. Darum verbeugen wir uns in Demut vor allen Opfern des Nationalsozialismus.

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

1945 haben viele gesagt: Die Nazivergangenheit könne noch nicht aufgearbeitet werden, jetzt müsse der demokratische Neuanfang in Angriff genommen werden. Das Eingestehen von Schuld und die Aufarbeitung kämen zu früh.

Heute sagen manche, wir sind doch schon viel zu weit entfernt von den damaligen Ereignissen. Viele, ja die allermeisten von uns, waren damals doch noch gar nicht geboren. Es braucht keine Aufarbeitung mehr.

Dann stellt sich allerdings die Frage: Wann wäre denn der richtige Zeitpunkt, um sich mit dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte auseinanderzusetzen?

 

Wann?

 

Die Antwort ist ganz einfach: gestern, heute und morgen!

 

Denn es gibt keine Entschuldigung für selbstverschuldete Unwissenheit für Wegschauen, für historische Ignoranz, oder gar für Relativierungen. Dass man „das Alles ja so gar nicht wissen konnte“, das haben wir schon zu oft gehört.

Heute können wir wissen. Deswegen sollen und müssen wir uns dieses Wissen aneignen. Und wir dürfen die Augen, die Ohren nicht verschließen.

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Österreich steht zu seiner Verantwortung.

Österreich wird daher die Erinnerung an die Schrecken von Nationalsozialismus, Krieg, Verfolgung und Holocaust wachhalten.

Wir haben aus der Geschichte gelernt und wir werden diese Lehre an kommende Generationen weitergeben.

Gerade, wenn das Elend von Krieg und Totalitarismus nicht mehr aus eigenem Erleben bezeugt werden kann; wenn die Zahl derer, die Zeugnis ablegen können ständig abnimmt, gerade dann ist die Auseinandersetzung mit dieser dunklen Vergangenheit unseres Landes uns Pflicht und Verpflichtung.

 

Es mag stimmen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt.

 

Das bedeutet jedoch nicht, dass Lehren aus ihr ein für allemal gezogen wären, dass die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde ein abgesichertes Gemeingut wäre.

 

 

Meine Damen und Herren!

Es gibt, und darauf möchte ich besonders am heutigen Tag hinweisen, in Österreich auch eine Tradition der Courage und des Charakters.

Menschen, die große Bürden und Gefahren auf sich genommen haben, um anderen zu helfen;

Menschen die aufgestanden sind, wenn andere sich nicht getrauten;

Menschen, die Widerstand geleistet haben;

Menschen, die auch in schwierigen Zeiten Mitmenschlichkeit und Haltung bewiesen haben.

 

Sie können und sollen uns heute als Vorbild dienen.

 

Ich sage dies besonders in Richtung Jugend. Einer Jugend, die erfreulicherweise im Frieden aufgewachsen ist; deren Maxime nicht das Gehorchen, sondern das kritische Hinterfragen sein soll. Deren Handlungen nicht durch das blinde Befolgen von Befehlen, sondern durch humanistische Werte legitimiert sein sollen.

 

Deswegen kann es auch nicht darum gehen, unsere Werte einer offenen, demokratischen Gesellschaft nur zu verteidigen.

 

Nein.

 

Wir müssen sie, ganz im Gegenteil, ausbauen, stärken und immer fester im Selbstverständnis jeder und jedes Einzelnen verankern.

Selbstbewusst und selbstbestimmt, weltoffen und solidarisch, friedliebend und tolerant.

Das ist das Bild, dem sich Österreich verpflichtet sieht.

Unsere Kinder und Kindeskinder werden - so hoffe ich - dieses Bild weiter mit Leben erfüllen und in die Zukunft tragen.

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Ich möchte Sie nun ersuchen, sich von den Plätzen zu erheben und mit mir still der Opfer des Nationalsozialismus gedenken.

 

Ich danke Ihnen.

***

English Version

 

The end of Austria – 1938 – did not come as a surprise.

When German troops crossed the border with Austria during the night of 11 to 12 March, there were those who saw their hope fulfilled, while for others, an anxious apprehension turned into certainty.

This put an end to a desperate, awkward and in part half-hearted struggle to uphold Austria’s autonomy.

This change also opened the gateway to expropriation, deportation, excesses of violence, torture, war and “industrialised” mass murder.

It marked the beginning of the darkest chapter in the history of our country.

 

Ladies and gentlemen,

Thank you all very much for gathering at the Vienna Hofburg today to commemorate together the takeover of Austria by the National Socialists.

As we remember the events of that time, we are fully aware that 80 years later it still demands our full attention to grasp how a disaster such as this could come about.

How the lowest feelings and emotions could seize people’s hearts;

how neighbours could turn into “enemies of the people”, and fathers into mass murderers;

how people could both listen to Mozart and turn on the gas valve.

 

The German armed forces came overnight.

What did not come overnight was contempt for democracy, militarism, intolerance and violence.

These had slowly crept into many a mindset in Austria and taken hold.

Humanism and the rule of law were being continuously undermined. It was a multiple organ failure on the political and social levels, caused by the illnesses of growing political polarisation, ideological irreconcilability, racism and anti-Semitism.

Ladies and Gentlemen, 12 March 1938 has a history behind its history and ultimately marks the culmination of a disastrous development. That is precisely why today we must continue to take a very close look at how it was possible things could go that far. And we must demonstrate strong resolve in drawing our lessons.

The lesson that democracies, too, are susceptible to populism and demagogy.

The lesson that discrimination constitutes the first step towards dehumanisation.

The lesson that racism and anti-Semitism do not simply disappear, but continue to exist today, both on a small and large scale.

And last but not least, the lesson that it is crucial to raise our voices early enough, clearly and unequivocally, and stand up against any form of degrading and inhumane ideology.

This is why it is the responsibility of each and every one of us, of you and of me, to sharpen our senses, and to stay alert and sensitive, trying to recognise the possible writing on the wall.

 

Ladies and Gentlemen,

Austria has a shared responsibility for the atrocities of National Socialism.

Austrians were not only victims but also perpetrators, oftentimes in leading positions. Austria admitted this responsibility, sometimes very late. It will also acknowledge it in the future.

Therefore, we bow in humility to all victims of National Socialism.

 

Ladies and Gentlemen,

In 1945, many people said that it was not yet possible to work through the Nazi past, that this was the time to tackle the democratic new beginning. That it was too early to admit guilt and start to actively deal with it and work through it.

Today, some people say that we are already much too far away from these past events. Many, in fact most of us, were not even born yet at that time. There is no need to work through this anymore.

However, that then raises the question:

When, in fact, would be the right moment to deal actively with the worst crime in human history?

When?

The answer is very simple: yesterday, today and tomorrow!

Because there is no excuse for a self-imposed lack of knowledge, for looking the other way, for historical ignorance, or for limiting the significance of what happened in any way.

Far too often, we have heard that “one simply could not have known all of that”.

Today, we can know about it.

This is why we should and must acquire this knowledge.

And we must not turn a blind eye and a deaf ear to what happened.

 

Ladies and Gentlemen,

Austria stands by its responsibility.

Thus, Austria will uphold the memory of the horrors of National Socialism, war, persecution and the Holocaust.

We have learned from history, and we will pass on the lessons learned to future generations.

It is our duty and obligation to face and actively deal with this dark chapter of our country’s past, especially when personal experience can no longer bear witness to the misery of war and totalitarianism and the number of those who are able to give testimony to it is constantly decreasing.

It might be true that history does not repeat itself.

This does not mean, however, that lessons would have been learnt once and for all and that respect for human rights and human dignity could be considered a secured common good.

 

Ladies and Gentlemen,

On this very day, in particular, I would like to draw your attention to the tradition of courage and character that we also have here in Austria.

People who took great risks and shouldered considerable burdens in order to help others;

people who stood up when others did not dare to;

people who resisted;

people who demonstrated humanity and a sense of dignity even in difficult times.

They can and should serve as an example for us all.

 

I am directing this at young people, in particular.

Young generations who fortunately grew up in times of peace; whose guiding principle is not to obey but rather to question things in a critical way. Whose actions shall not be legitimised by blindly following orders but rather through humanistic values.

Therefore, it cannot be merely about defending our values of an open, democratic society.

No.

To the contrary, we need to develop and strengthen these values, and anchor them ever more firmly in each and every one’s identity.

Self-confident and self-determined, open-minded and demonstrating solidarity, peace-loving and tolerant – this is the image to which Austria feels committed.

It is my hope that our children and children’s children will continue to fill this image with life and carry it into the future.

 

Ladies and Gentlemen,

May I now ask you all to rise from your seats and observe a moment of silence with me in memory of the victims of National Socialism.

Thank you.